: Tötungsfabrik „Einheit 731“
aus Tokio ANDRÉ KUNZ
„Ich habe Dinge getan, die ein Mensch nie in seinem Leben tun sollte!“ Yoshio Shinozuka's Hände zittern ziemlich stark, seine Augen hinter den dicken Brillengläsern sind wässrig, und dann wendet er das schneeweiße Haupt traurig weg. Beklemmung liegt im Raum, wo der 78-jährige Shinozuka gerade über seine Rolle in einer der geheimsten Missionen der japanischen Armee während des Zweiten Weltkrieges erzählte. Shinozuka war ein Mitglied der „Einheit 731“. Diese berüchtigte Truppeneinheit stand unter dem Kommando des Arztes Dr. Shiro Ishii und betrieb zwischen 1934 und 1945 im besetzten Nordosten Chinas, nahe der Stadt Harbin, eine Forschungsanstalt für die Entwicklung biologischer und chemischer Waffen.
Shinozuka war gerade 16. Nur knapp hatte er den kalten Kriegswinter 1939 mit seiner Familie in der Stadt Chiba überlebt. Die Zukunft sah trübe aus für den Schulabgänger. Zwei Wege zu einem Auskommen standen offen: entweder der Jugendtruppe der Armee beitreten, oder sich auf den Straßen der nahen Hauptstadt verdingen. Shinozuka wählte das Militär und meldete sich freiwillig für die in Chiba bekannte Ishii-Truppe. So hieß die Einheit 731 in Chiba – auch weil der Kommandant Ishii aus der Gegend stammte und vorwiegend Männer aus Chiba rekrutierte. Zwei Monate verbrachte der halbwüchsige Shinozuka in den Labors für die Verhütung von Epidemien der kaiserlichen Armee in Tokio, dann wurde er nach Nordostchina versetzt. Am 12. Mai 1939 kam er in Harbin an. Diesen Tag hat Shinozuka nie mehr vergessen, denn an diesem Tag stellte sich sein Leben auf den Kopf.
Töten? Holzklötze fällen!
In der Anlage Pingfang, außerhalb der Stadt Harbin, begann Shinozuka seine Arbeit als Krankenpfleger – und als Züchter tödlicher Viren und Bakterien. Ruhr-, Cholera- und Typhusbakterien half Shinozuka in der ersten Zeit zu züchten. Später, als er weitergebildet worden war, übernahm er auch die Verantwortung für Anthrax- und Pestbakterien. „Für die Erprobung der Kampfstoffe gab es in der Anlage zwei Gebäude für „besondere Behandlungen“, wo chinesische Gefangene den tödlichen Bakterien ausgesetzt wurden“, erzählt Shinozuka. Sobald die ersten Anzeichen der Krankheit auftauchten, wurden die Testpersonen bei lebendigem Leibe seziert, um Erkenntnisse über die Auswirkungen auf die inneren Organe zu erhalten.
„Wir nannten die Insassen nur maruta – Holzklötze –, und es war durchaus üblich unter Soldaten, dass sie sich abends gegenseitig vorrechneten: Heute haben wir wieder zwei Holzklötze gefällt.“ Shinozuka selbst nahm an fünf Sektionen von lebenden Menschen teil. „Wir betrieben buchstäblich eine Tötungsfabrik“, erklärte er. Heute wissen Historiker, dass die Einheit 731 in Pingfang mindestens 3.000 gefangene Chinesen und einige hundert Russen auf diese Weise tötete. Überlebende des Forschungslabors gab es nicht, da die Japaner kurz vor der Niederlage die Anlagen vollständig zerstörten und sämtliche Insassen töteten.
Die Erprobung der Kampfstoffe beschränkte sich allerdings nicht nur auf die Laborversuche. In sechs belegten Feldversuchen zwischen 1941 und 1944, die in allen Teilen des damals besetzten China durchgeführt wurden, sollen mehr als 20.000 chinesische Dorf- und Stadtbewohner umgekommen sein. Aus diesen Dörfern überlebten Zeugen bis zum heutigen Tage, und sie berichten von grausigen Szenen. Yang Da-fang aus der zentralchinesischen Kleinstadt Quzhou in der Provinz Zhejiang berichtete im Prozess von einem Versuch vom 4. Oktober 1940, in dem allein in seinem kleinen Städtchen innerhalb drei Monaten 280 Menschen an Pest starben. „Mein Vater war immer ein gesunder Mann, und dann ist er innerhalb von ein paar Tagen unter grausamen Schmerzen gestorben. Nur kurz danach raffte es meine Mutter und meinen Bruder ebenfalls weg“, sagte Yang dem Gericht.
Mit mehr als zwanzig Zeugenaussagen über die Feldversuche und drei Geständnissen von japanischen Tätern kämpft der japanische Menschenrechtsanwalt Keiichiro Ichinose seit 1997 für 180 chinesische Kläger vor einem Tokioter Gericht um eine Entschädigung und eine Entschuldigung seitens der japanischen Regierung. Der Prozess gilt in einer Reihe von Entschädigungsprozessen, in denen es um Zwangsarbeiter japanischer Unternehmen, „Trostfrauen“ der japanischen Armee und Zwangsarbeiter in besetzten Ländern geht, als einer der wichtigsten, weil die Untaten der Einheit 731 auch von Tätern wie Yoshio Shinozuka öffentlich zugegeben werden.
„Ich bin sicher, dass das Gericht die Tatsachen anerkennen wird“, sagt der Anwalt Ichinose. Doch dass sich die Richter von den erschütternden Berichten genug beeindrucken lassen werden, um die japanische Regierung zu einer Entschuldigung und Entschädigungszahlungen für die Opfer zu verurteilen, bezweifelt der Anwalt und fügt hinzu: „Ärgerlich ist die Tatsache, dass die japanische Regierung sogar angesichts erwiesener Tatsachen jegliche offizielle Kompensationszahlungen verweigert. Das zeugt von wenig Reuegefühl wegen der Missetaten.“
Shinozuka, der zusammen mit 14 anderen Soldaten mit seinen Bekenntnissen in dem Dokumentarfilm „Japanische Teufel“ von Kenichi Oguri aufgetreten ist, will selbst bei einer Niederlage der Kläger bis zu seinem Lebensende über die Grausamkeiten der Einheit 731 weiterberichten. Shinozuka, der in Pingfang nur eine untergeordnete Stelle einnahm, schaffte nämlich nach der japanischen Kapitulation die Flucht ins Heimatland nicht sofort. Er geriet in chinesische Kriegsgefangenschaft und wurde erst 1956 entlassen. „Ich gab schon damals alles zu und war bereit, dafür zu sterben“, erzählt Shinozuka. Seine chinesischen Richter erkannten seine Reue an, ließen ihn am Leben und schickten ihn mit dem Auftrag nach Japan zurück, über die Grausamkeiten von Pingfang zu berichten.
Ohne Strafe weiterleben
Während Shinozuka in China seine Fehler bereute, gingen die leitenden Kommanndanten der „Einheit 731“ straffrei aus. Sie hatten kurz nach der Niederlage der Siegermacht USA die wichtigsten Forschungsunterlagen übergeben und erhielten dafür Immunität während den Tokioter Prozessen über Kriegsverbrechen. Dr. Shiro Ishii und zwei andere leitende Ärzte der Einheit 731 wurden nach dem Kriege die Begründer der ersten Blutbank Japans, die im Koreakrieg 1951 bis 1953 zu einem riesigen Unternehmen heranwuchs und später in Greencross umgenannt wurde. Genau diese Firma war Mitte der 80er-Jahre verantwortlich für HIV-Infektionen unter Blutern, weil sie illegal HIV-infiziertes Blutplasma aus den USA eingeführt hatten.
„Ich habe sehr schwer wiegende Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, und es würde mir nichts ausmachen, noch einmal als Kriegsverbrecher verurteilt zu werden und dafür zu büßen“, erklärt Shinozuka reuevoll. In China wird er schon lange als Mitkämpfer um eine gerechte Aufarbeitung der Kriegsvergangenheit Japans akzeptiert. Ebenso der Anwalt Ichinose, der mehrmals im Jahr auf Vortrags-und Recherchereisen in China weilt. „Es geht den Chinesen in dieser Sache längst nicht mehr ums Geld, wie viele Japaner oft behaupten. Es sind junge Chinesen, die sich für diese Fragen erwärmen, und sie sind heute an einer „wahren Geschichte“ interessiert“, sagt Ichinose. Er hofft, das Gericht gibt ihm heute Recht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen