: Wandel durch Streit
Vor genau 15 Jahren löste das SPD-SED-Papier eine heftige Debatte in der Bundesrepublik über die Ostpolitik aus. Zwei faktenreiche Bücher von ostdeutschen Zeitzeugen beleben erneut die Diskussion
von ALEXANDER CAMMANN
Bonn, 27. August 1987: Ein ehemaliger sozialdemokratischer Bundesminister, Erhard Eppler, und ein Professor für wissenschaftlichen Kommunismus aus der DDR, Rolf Reißig, sitzen einträchtig in einer Pressekonferenz nebeneinander und überraschen die deutsch-deutsche Öffentlichkeit mit einem gemeinsamen Papier. Es heißt offiziell „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ und ist, gebilligt von beiden Parteiführungen, das Ergebnis von Gesprächen, die die Grundwertekommission der SPD seit 1984 mehrfach mit der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED geführt hatte (und danach bis 1989 fortsetzte).
Das SPD-SED-Papier, anderntags im Neuen Deutschland veröffentlicht, war eine Sensation, denn es benannte zum ersten Mal seit 1917 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Von „Existenzberechtigung beider Seiten“ und „Friedensfähigkeit“ war dort ebenso die Rede wie von Reformnotwendigkeit und freiem Zugang zu Zeitungen und Büchern. Das Papier avancierte zum umstrittensten Zeugnis der sozialdemokratischen Ostpolitik der 80er-Jahre. Für die einen ist es durch seine Formulierungen die „Magna Charta der Meinungsfreiheit in der DDR“, für die anderen die ideelle Kapitulation der Sozialdemokratie vor dem Kommunismus – so zuletzt Helmut Kohl auf dem Frankfurter CDU-Parteitag im Juni 2002.
Diese parteipolitische Instrumentalisierung hatte Folgen: Die zeithistorische Forschung hat bisher einen übervorsichtigen Bogen um das SPD-SED-Papier gemacht, erwähnt wird es in Gesamtdarstellungen zur Ostpolitik oder zur SPD-Geschichte allenfalls am Rande. Zwei, die auf Seiten der SED damals an den Treffen beteiligt waren, versuchen nunmehr, diese Lücke zu füllen. Rolf Reißig hat mit Hilfe ausgiebiger Archivrecherchen und Zeitzeugeninterviews vor allem die Wirkungsgeschichte des Papiers in Ost und West untersucht. Erich Hahn, damals Direktor des Instituts für marxistisch-leninistische Philosophie an der Akademie, beschreibt dagegen anhand ausformulierter persönlicher Aufzeichnungen vor allem die Debatten zwischen beiden Seiten.
Beide Darstellungen belegen die Sonderrolle, die das SPD-SED-Papier im immer enger werdenden deutsch-deutschen Beziehungsgeflecht der 80er Jahre, zwischen Strauß’ Milliardenkredit und Honeckers Bonn-Besuch, hatte. Es ging bei diesen Gesprächsrunden nicht um Reiseerleichterungen, Mindestumtauschsätze und Fototermine bei Erich Honecker. Vielmehr trafen sich Parteitheoretiker und -intellektuelle beider Seiten (für die SPD neben Eppler u. a. Richard Löwenthal, Peter von Oertzen, Thomas Meyer, Johano Strasser, Iring Fetscher) zu insgesamt sieben mehrtägigen Seminaren, um über ideologische Fragen zu diskutieren: Was ist Fortschritt? Gibt es Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte? Welchem Menschenbild folgen Sozialdemokraten und Kommunisten? In der letzten Runde 1989 wurde gar über Menschenrechte debattiert.
All diese Debatten kann man bei Hahn protokollartig nachlesen. Sie offenbaren die tiefen Unterschiede im Denken zwischen beiden Seiten. Man findet erfrischende Attacken Johano Strassers auf die SED-Politik (das „spießige Gehabe einer Macht-Elite, die um ihre Monopolstellung fürchtet“) ebenso wie die Rabulistik östlicher Ideologen. Die Lektüre wird zu einer spannenden Zeitreise in die geistige Welt der 80er-Jahre – jedenfalls für den, der nach der Epochenscheide 1989 noch einen Sinn für die theoretischen Schlachten der Linken hat und der die Kraftanstrengung vollbringen mag, sich durch einen oft ungeordneten und sprachlich kaum zumutbaren Text zu arbeiten.
Rolf Reißigs weitaus umfangreichere Studie wird von seinem einstigen Gegenüber Erhard Eppler im Nachwort zum „Standardwerk“ geadelt. Auf beeindruckende Weise hat Reißig die Äußerungen zum SPD-SED-Papier, die aus der evangelischen Kirche in der DDR, der DDR-Opposition, der SPD und aus der SED überliefert sind, systematisch zusammengetragen. Internationale Reaktionen werden von ihm ebenso dokumentiert wie die heftigen Debatten in der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Zweifellos ist Reißig eine Pionierstudie gelungen, in der er belegt, wie das Papier zu einer wichtigen Berufungsgrundlage für viele wurde, die Veränderungen in der DDR wollten. Allerdings stören vielfache Wiederholungen und des Öfteren wünscht sich der Leser genauere Belege, so wenn Reißig orakelt: „Der deutlichste Befürworter [des Papiers] war, nach Aussagen von Insidern, Honecker selbst“.
Die Mutation des Augenzeugen zum Geschichtsschreiber ist allerdings immer problematisch. Auch bei Reißig ist das nicht anders: Allzu leicht wird das SPD-SED-Papier in seiner Interpretation zum Schlüsseldokument der späten DDR stilisiert. Das Papier ist für ihn zu einem Lebensthema geworden, dessen reformerische Wirkungen er noch in den Auflösungserscheinungen der SED im Herbst 1989 sieht. Insofern liegt Eppler falsch, wenn er meint, man könne die Herkunft des Autors – ob West oder Ost, ob SPD oder SED – nicht erkennen. Leider fehlt bislang, abgesehen von Epplers Erinnerungen, eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Papier von sozialdemokratischer Seite.
Das SPD-SED-Papier und die Gespräche darüber waren, das belegen beide Bücher, die offensivste Form sozialdemokratischer Entspannungspolitik: Durch die öffentliche Diskussion über die Thesen des Papiers in der DDR sollte eine Reform des politischen Systems bewirkt werden. Insofern reichte dieser Ansatz sehr viel weiter als die Status-quo-fixierte Politik eines Egon Bahr. Wie stark die Wirkung des Papiers in der DDR war, bleibt allerdings schwer zu beantworten, zumal die SED-Führung keine Anstalten machte, die im Papier festgelegten Maximen in ihrer Innenpolitik umzusetzen. Volker Rühes polemisches Diktum vom „Wandel durch Anbiederung“ kann man der SPD-Grundwertekommission alles in allem nicht vorhalten. Dazu waren die Auseinandersetzungen in den Gesprächen trotz aller Kompromissbereitschaft zu hart und grundsätzlich – jedenfalls für eine Zeit, in der Oskar Lafontaine im Spiegel Erich Honecker auf sieben Seiten zum Geburtstag gratulierte und Helmut Schmidt dem SED-Chef emphatisch „Einer unserer Brüder“ entgegenrief.
Rolf Reißig: „Dialog durch die Mauer. Die umstrittene Annäherung von SPD und SED“, 449 Seiten, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2002, 29,90 €ĽErich Hahn: „SED und SPD. Ein Dialog. Ideologie-Gespräche zwischen 1984 und 1989“, 280 Seiten, edition ost, Berlin 2002, 14,90 €
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