: Islamisten fühlen sich stärker denn je
Ein Jahr nach dem 11. September stehen radikale Organisationen in den arabischen Ländern unter staatlichem Druck. Als ideologische Kraft hat der Islamismus aber gewonnen. Ein Krieg gegen den Irak würde diesen Trend verstärken
KAIRO taz ■ Auf den ersten Blick scheint es der islamistischen Bewegung ein Jahr nach dem 11. September nicht gut zu gehen: Ussama Bin Laden und seine Gefolgsleute sind untergetaucht und auf der Flucht. In deren arabischen Herkunftsländern nutzen die Staatsapparate im Namen des internationalen Antiterrorkampfes die Gunst der Stunde und machen Jagd auf alles, was irgendwie mit islamistischer Opposition zu tun hat.
Erst zu Beginn der Woche hat ein ägyptisches Militärgericht 51 Menschen zu Zuchthaus zwischen zwei und fünfzehn Jahren verurteilt. Sie waren angeklagt, eine islamistische Verschwörung gegen die Regierung geplant zu haben. Beweise, die einem rechtsstaatlichen Verfahren Genüge getan hätten, wurden in dem Prozess kaum vorgelegt. Über 250 ägyptische Muslimbrüder befinden sich derzeit in Untersuchungshaft, mit so zweifelhaften Vorwürfen wie, sie hätten die öffentliche Meinung in die falsche Richtung gelenkt. Ein Beispiel, das sich in anderen arabischen Ländern wiederholt.
Und doch gibt sich Kamal as-Sayyed Habib, einer der Gründer der militanten ägyptischen Dschihad-Gruppe, die für die Ermordung des ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat verantwortlich war, heute selbstbewusst. „Als organisierte Bewegung hat uns der 11. 9. geschwächt, aber als Ideologie sind die Islamisten heute stärker denn je“, sagt Habib, der ehemaligen Kampfgefährten wie dem heutigen ägyptischen Al-Qaida-Chefplaner Aiman al-Sawahiri, zumindest was deren gewaltsame Methoden betrifft, den Rücken gekehrt hat.
Eine Einschätzung, der auch der ägyptische Islamistenexperte des Al-Ahram-Zentrums für Strategische Studien zustimmt. Sicher stünden die islamistischen Organisationen derzeit unter dem Druck der Polizeiapparate, sagt Dia Raschwan. Gleichzeitig hätten die Islamisten in der arabischen Welt aber an Ansehen gewonnen. Besonders durch das Verhalten der USA nach dem 11. 9. glauben viele Muslime und Araber, dass sich die Welt tatsächlich in einem Krieg der Kulturen oder Religionen befindet. Die Konsequenz: Die Islamisten werden als Vorkämpfer in vorderster Front zur Verteidigung der eigenen Werte gesehen. Der Islamist Habib sieht es so: „Nicht wir, sondern die säkularen arabischen Liberalen befinden sich seit dem 11. 9. in einer Krise, weil sie sich vor den Leuten in ihrer Nähe gegenüber dem Westen verantworten müssen.“ Die USA, sagt Habib, wollten im Namen des Antiterrorkrieges einen amerikanischen Islam schaffen, mit islamischen Rechtsgelehrten, die mit amerikanischer Zunge reden. Washington teile heute die Welt nicht geografisch nach Nationalstaaten, sondern nach Identitäten auf. Der Sozialwissenschaftler Dia Raschwan beschreibt derartige Sichtweisen als „Geburt des islamischen Nationalismus“.
Der Nahostkonflikt, Afghanistan und Irak haben dazu geführt, dass sich die Islamisten in ihrem Kampf weg von den eigenen, ihrer Meinung nach „ungläubigen“ arabischen Regimen auf die internationale Ebene konzentrieren. „Seit dem 11. 9. wissen alle, dass die USA unser wirklicher Feind sind, vielleicht sogar noch vor Israel“, sagt Habib.
Dieses „Weg von der Heimatfront hin zur internationalen Konfrontation“ könnte in Zukunft zu völlig neuen Koalitionen führen. Je mehr die US-Regierung in ihrem Kampf gegen den Terrorismus auch Regime wie Saudi-Arabien oder Ägypten unter Beschuss nimmt, um so mehr, erwarten Raschwan und Habib, wird es zu einer Annäherung zwischen Islamisten und den Regimen kommen.
Ein Irakkrieg, wie er derzeit von der Regierung Bush propagiert wird, wird das kollektive arabische Gefühl „wir gegen die USA“ verstärken und den Islamisten weiteren Zulauf bringen. Mit allen entsprechenden Konsequenzen. Dia Raschwan erwartet in nächster Zeit weitere islamistische Anschläge, weniger von al-Qaida, sondern von einzelnen Trittbrettfahrern oder kleinen bisher unbekannten Gruppen. Was derzeit in Israel und Afghanistan passiert und was im Irak geschehen wird, sei, so Raschwan, der ideale Kontext für weitere islamistische Operationen. KARIM EL-GAWHARY
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