Hochstapler von Hameln bis Harvard

In Zeiten, wo im Berufsleben der Schein über das Sein dominiert, sind Aufschneider zu „Vorreitern des gesellschaftlichen Mainstreams“ geworden. Dabei führen gerade sie uns vor Augen, dass die „Ich-AG“ auf den Misthaufen der Geschichte gehört

von HELMUT HÖGE

Im vergangenen Jahr erschienen zwei Autobiografien von bekannten Hochstaplern: „Doktorspiele“ von Gert Postel und „Catch Me If You Can“ von Frank Abagnale. Beide Bücher sollen beziehungsweise werden bereits verfilmt, und beide sind ihrerseits Hochstapeleien, insofern sie von den Autoren – der eine gab sich immer wieder als Arzt aus, der andere als Pilot – nicht selbst geschrieben wurden.

Ihren Biografien ging bereits ein von Studenten organisierter „1. Internationaler Hochstaplerkongress“ in Berlin voraus. Auf ihm wurde der Hochstapler als ein „Vorreiter jenes gesellschaftlichen Mainstreams“ herausgestellt, „der die Dominanz des Scheins über das Sein besiegelt“.

Die Abbildgesellschaft

Dieser Befund trifft sich mit den Analysen des Fortbildungs- und Umschulungssektors, die der Filmemacher Harun Farocki seit der Wende gemacht hat. In den vor allem im Osten entstandenen Bildungszentren wird den Arbeitslosen unter anderem beigebracht, wie man sich richtig bewirbt. Es sind Auftrittsschulungen, in denen das wirkliche (westliche) Leben geübt werden soll – für eine neue Gesellschaft, die laut Farocki vollständig auf ihr Abbild hin organisiert ist.

Die letzte Shell-Studie zeigt, dass die deutsche Jugend dieses „Ziel“ bereits mehrheitlich gefressen hat: „In“ sind danach – für 82 Prozent der Befragten – die individuelle „Karriere“ sowie – für 88 Prozent – das „tolle Aussehen“. Für beides kommt den oben erwähnten Hochstaplern eine Vorbildfunktion zu.

Frank Abagnale schreibt zum Beispiel: „Noch vor meinem zwanzigsten Lebensjahr hatte ich es zum zweieinhalbfachen Millionär gebracht. Jeder Pfennig dieser Summe war gestohlen, und ich gab einen Großteil davon für exklusive Kleidung, Essen vom Feinsten, luxuriöse Unterkünfte, fantastische Bräute, teure Autos und andere sinnliche Genüsse aus.“

Ähnlich klingen auch die „Geständnisse“ von Gert Postel, nur dass er zuletzt als Oberarzt an einer ostdeutschen psychiatrischen Klinik etwas weniger verdiente. Was die beiden außerdem eint, ist die strenge Orientierung nach oben, ihre vollständige Ausrichtung auf diejenigen, die es geschafft haben. Das geht einher mit einer großen Verachtung aller, die von ihnen abhängig, die „unten“ sind – vor allem Frauen. Bei dem falschen Arzt Postel waren das erst Prostituierte und zuletzt Patientinnen mit psychischen Problemen.

Artistik statt Ausbildung

Der Gerichtsreporter Gerhard Mauz schrieb in dem ebenfalls stets auf die Mächtigen hin orientierten Nachrichtenmagazin Der Spiegel, „dass da ein Artist sein Spiel trieb“. Eher sollte man von einem Charakterschwein reden. Ob ihre lumpenproletarische Gewissenlosigkeit ihnen die Hochstapelei erleichtert hat, mag dahingestellt sein – Tatsache ist, dass sie damit das Fehlen einer soliden – universitären – Ausbildung kompensierten, indem sie diese oberflächlich umso perfekter nachäfften. Mit dieser „Artistik“ sind sie jedoch keine Außenseiter mehr, insofern die Universitäten selbst längst Hochburgen des Auftrittsbetrugs geworden sind: des „großen Bluffs“, wie das eine Rotbuch-Studie in den Siebzigerjahren nannte.

Heute veröffentlichen Spiegel und Focus regelmäßig „Ranking“-Listen der besten Universitäten. Und je höher es die Studierenden zieht, desto mehr handelt es sich bei den Hochschulreifen um moralische Kretins.

Den Gipfel an Verkommenheit bildet immer noch die Universität Harvard in Massachusetts aus. Harvard ist für die allgemeine Herzensbildung ungefähr dasselbe, was Sellafield für die Umwelt darstellt: eine schwere Belastung. Dies hängt ebenfalls mit dem Ranking der US-Universitäten zusammen, das die Höhe der Studiengebühren bestimmt.

Mittlerweile gibt es wahrscheinlich keine erfolgreichen Mafiosi, Gangster, Waffenhändler, Rauschgiftschieber und korrupte Politiker mehr weltweit, die ihre Söhne und Töchter nicht nach Harvard schicken – um sie zu veredeln und zu verfeinern.

Für diese sauberen Sprösslinge gibt es dort dann nur noch ein Verbrechen: das Kooperieren. Die „Competition“ wird in Harvard derart groß geschrieben, dass die Studenten untereinander nicht einmal andeuten mögen, was sie denken oder an welcher These sie gerade arbeiten – aus Angst, man könnte ihnen ihre blödsinnigen Ideen klauen.

Denn sie denken natürlich alle denselben Scheiß: Noch mehr Spaß haben – über die Karriere und/oder ein blendendes Aussehen. Was an deutschen Unis immer noch gefördert wird, die Gruppenarbeit, kann in Harvard sogar disziplinarische Folgen haben, wenn sie auffliegt.

Die „Ich“-Lüge

Im Endeffekt hat sich diese vollkommen asoziale Elite zu dem gemausert, was man jetzt auch hier der Unterschicht zumuten möchte: Sie bilden einen wüsten Haufen „Ich-AGs“.

In Amerika, wo schon die kleinste gewerkschaftliche Zusammenrottung als kriminelle Verschwörung angesehen wird, ist es gang und gäbe, dass man von der Wiege bis zur Bahre „Ich, Ich, Ich“ sagt: „Ich denke, ich meine, ich will dies und das!“ In Deutschland und Frankreich ist man sich dagegen zumindestens unter den Philosophen schon lange einig, dass es nichts Verabscheuungswürdigeres als das Ich gibt, das einst mit dem Geldverkehr der Griechen aufkam.

„Im Grunde verletzt es meine Eitelkeit, dass jeder Name in der Geschichte Ich bin,“ sagte Nietzsche. „Bei manchen ist es schon eine Lüge, wenn sie Ich sagen“, klagte Adorno. Lévy-Strauss ist sich sicher: „Das Ich ist nicht nur hassenswert, es hat nicht einmal Platz zwischen einem Wir und dem Nichts.“ Und Antonin Artaud behauptete kurz und knapp: „Ich ist eine Sauerei!“

Die „Ich-AG“ – von Harvard bis Hameln – gehört also auf den Misthaufen der Geschichte! Und die uns dies immer wieder deutlich vor Augen führen, das sind die Hochstapler. Deswegen lieben wir sie – trotzdem. Und sind mit ihnen solidarisch – wenn sie endlich auffliegen!

Gert Postel, „Doktorspiele“. Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 2001. 191 Seiten, 13 €ĽFrank W. Abagnale, „Mein Leben auf der Flucht“. Heyne-Verlag, München 2001. 320 Seiten, 7,95 €