: Die Käseglocke droht
CONTRA: Beckstein und Schily sind nicht das Traumpaar, das die Bürgerrechte stärkt
Zweifellos gibt es im politischen System der Bundesrepublik Blockaden. Die Mehrheit der Opposition im Bundesrat wird genutzt, um die Regierungsmehrheit im Bundestag auszuhebeln. Rechtfertigt dieser Zustand eine große Koalition? Über sie sollte man nicht auf der Grundlage dessen diskutieren, was man selbst wünscht und anschließend den Parteien als eigentlich gemeinsame Linie unterstellt. So verfährt Gerd Grözinger. Statt dessen wäre eine Brise Realismus unter Einbeziehung der historischen Erfahrung angebracht.
Mein Hauptargument gegen die große Koalition ist nicht ihre mangelnde Effektivität, sondern im Gegenteil, die Gefahr durchschlagender Erfolge beim Abbau von Demokratie und Grundrechten. SPD und CDU/CSU sind keine Bürgerrechtsparteien. Erinnern wir uns daran, dass die Verabschiedung der Notstandsgesetze ein zentrales Projekt der großen Koalition von 1966 bis 1969 war. Zwar wurde nachfolgend der Notstand nie ausgerufen. Aber die Notstandsgesetze bildeten doch den Humus für zahlreiche spätere, die Grundrechte einschränkende Gesetze. Auch der Föderalismus als Baustein der Gewaltenteilung wurde in der großen Koalition zugunsten des Zentralismus unterminiert. Damals wurde die Basis gelegt zu der von Grözinger beklagten Dominanz des Bundes und dem Missbrauch des Bundesrats als Instrument der Bundespolitik. Zwar hört man heute aus den Südstaaten den Ruf nach Steuertrennung – aus nahe liegendem selbstsüchtigem Grund. Aber von einer Reform des Bund-Länder-Verhältnisses, das den Föderalismus wieder in seine Rechte einsetzt, ohne die bundesstaatliche Solidarität zu gefährden, ist weder bei der SPD noch bei der CDU die Rede.
Haben sich denn seit der großen Koalition die politischen Positionen der großen Parteien in Sachen Demokratie gewandelt? Nehmen wir als Beispiel die Debatte um das Zuwanderungsgesetz und um die beiden „Sicherheitspakete“, die nach dem 11. September verabschiedet wurden. Hier geht es um Grundfragen der demokratischen Integration. In einer erneuten großen Koalition wäre bei der Zuwanderung die Härteklausel unter den Tisch gefallen, das Nachzugsalter für Kinder wäre noch weiter gesenkt worden, ganz zu schweigen von der Anerkennung nichtstaatlicher Verfolgung als Asylgrund. Ohne die minimale Korrektivfunktion der Grünen wäre die Tür auch weit geöffnet für eine noch restriktivere Praxis für die Visaerteilung, für die Überwachung und Abschiebung verdächtiger Ausländer. Beckstein und Schily wären so unzertrennlich wie weiland Plüsch und Plum (Strauß und Schiller) in der Koalition von 1966.
Plüsch und Plum waren es in der Tat, die in der ersten großen Koalition angesichts der Wirtschaftskrise gemeinsam Staatsinterventionismus im großen Stil betrieben. Auch Stoiber favorisiert den starken Staat – allerdings nur in Bayern. Ob sich aus seinem Credo für mehr Steuergerechtigkeit zugunsten kleiner und mittlerer Einkommen der Funken praktischer Maßnahmen schlagen lässt, steht doch stark in Frage. Im Zweifel geht es um Steuersenkungen, von denen hauptsächlich Großunternehmer profitieren würden und nicht um eine faire Verteilung der Steuerlast. Denn mehr Prozent von ausgewiesenen Null bei der Berechnung der Kapitalsteuer ergibt immer noch Null. Höchst greifbar hingegen ist die Absicht, den Arbeitsmarkt weiter zu „rationalisieren“ und die Arbeitslosen zu würgen. Wenn es eine Übereinstimmung von Rot und Schwarz gibt, dann in Richtung weiterer sozialer Abbau.
Zwar trifft es zu, dass die Grünen dringend einer Regenerierungsphase in der Opposition bedürfen. Andererseits wären weder sie noch die PDS, noch die Liberalen in der Lage, eine große Koalition wirksam zu kontrollieren. Absprachen in Koalitionsrunden, Abschottung gegenüber der Öffentlichkeit, Abschmieren von parlamentarischen Initiativen, Disziplinierung aller Abgeordneten der Koalition, die die breite Mehrheit für Extratouren nutzen wollen – die große Käseglocke droht. CHRISTIAN SEMLER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen