: Die Einzelkämpfer
Neun Kandidaten bewerben sich in Berlin auf eigene Faust und ohne Parteiunterstützung um ein Bundestags-Direktmandat. Aussichten auf Erfolg sind mehr als schlecht: 1998 erhielt der erfolgreichste 0,5 Prozent
von STEFAN ALBERTI
Der Mann sieht aus wie eine Mischung aus Weihnachtsmann und Rasputin. Kantiger, fast kahler Schädel und ein dichter grauer Rauschebart, der ihm in die Brust hängt. Das hat Wiedererkennungswert, den sich Parteien wünschen. Doch der Mann, der da im Wahlkreis Treptow-Köpenick Fotopostkarten von sich verteilt, will von PDS bis CDU nichts wissen. Frührentner Josef Lange (51) ist einer von neun Berliner Einzelkämpfern bei dieser Bundestagswahl, ein so genannter Einzelbewerber. Nicht dass er sich Siegchancen ausrechnet. Aber: „Wenn bei einer Olympiade nur die antreten würden, die Chancen auf den Sieg haben, wäre es doch langweilig.“
Aussagen zur Ernsthaftigkeit solcher Bewerbungen mag Vize-Landeswahlleiter Horst Schmollinger nicht machen. „Wir prüfen nicht die Inhalte, sondern nur, ob die formellen Voraussetzungen erfüllt sind.“ Wahlkampfkostenerstattung vom Staat ist dabei weit weg: Sie fließt nur für Bewerber, die mindestens 10 Prozent der Stimmen erreichen – 1998 war das beste Berliner Einzelergebnis 0,5 Prozent.
Josef Lange kam vor vier Jahren in Treptow-Köpenick auf 0,3 Prozent. Zu klein ist sein Radius, um wahlkreisweit entscheidend Stimmen zu ziehen. In seinem Kiez hingegen, in Oberschöneweide, ist er nicht nur wegen seiner Wahlpostkarten ein bekanntes Gesicht. Er ist einer der Sprecher der Betroffenenvertretung im dortigen Sanierungsgebiet.
Parteilos war er nicht immer. Von Wendezeiten an machte er über zwei Jahre Politik für die SPD, war Fraktionsvize in der Treptower Bezirksverordnetenversammlung. Sein Chef: der heutige Bezirksbürgermeister Klaus Ulbricht. Bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember 1990 trat er noch auf Platz 18 der SPD-Landesliste an.
Damals will er noch Hoffnung gehabt haben, dass sich durch die Wiedervereinigung auch die Bundesrepublik reformieren würde. „Doch was die 89er wollten, ist völlig untergegangen.“ 1992 verließ Lange die SPD: Um Macht statt ums Gestalten sei es zunehmend gegangen, sagt er heute. „Wir waren über Nacht eine alte Westpartei“, sagt Lange rückblickend.
Schon zu DDR-Zeiten mochte er mit Parteien nichts zu tun haben. Nur im Gewerkschaftsbund sei er gewesen, „wegen der Versicherung“. Das schlug sich nieder: „In der Kaderakte stand, der Kollege Lange steht dem Gedanken des Sozialismus kritisch gegenüber und ist katholisch.“ Karriere war damit nicht groß zu machen, Lange war Chemiefacharbeiter, machte später den Meister, ist seit ein paar Jahren erwerbsunfähig geschrieben.
1995 stand sein Name zum ersten Mal als Einzelbewerber auf dem Wahlzettel, damals für das Abgeordnetenhaus – damit ist er Berlins dienstältester Einzelkandidat. Bei der Bundestagswahl 1998 bekam er 389 Stimmen – fast vier Mal so viel wie die Traditionskommunisten von der MLPD. 200 Wahlberechtigte hatten zuvor seine Bewerbung unterstützt, ein DIN-A4-Formblatt der Wahlleitung ausfüllen müssen, damit seine Kandidatur zugelassen wurde. Zehn Mal so viele Menschen musste er ansprechen, bis er diese Unterschriften zusammenhatte.
Anfangs setzte Lange zur Wahlwerbung noch auf Plakate. „Doch die waren schnell weg – ich konnte meine nicht wie die Parteien hoch an Laternen hängen.“ Stattdessen verteilt er nun Postkarten mit seinem Foto. Das ist zwar günstiger, hat aber immer noch über 500 Euro gekostet. „Andere Leute fahren in den Urlaub, ich mache Wahlkampf.“
Die Bundestagskandidatur ist für ihn eher Mittel zum Zweck, sie soll seiner Kiezarbeit nutzen: „Ich mache das nur, damit mich die Herren Politiker wahrnehmen.“ Eigentlich sieht er seinen Platz in der Bezirksverordnetenversammlung, „aber in einer gut funktionierenden, die auch richtig etwas zu entscheiden hat und nicht nur Spielwiese für Politikanfänger ist.“ Sein Pech: Fürs Bezirksparlament ist eine Einzelbewerbung nicht möglich.
Die Wahrnehmung, die seine Kandidatur bezwecken soll, ist durchaus da. Der örtliche SPD-Bundestagsabgeordnete Siegfried Scheffler nennt ihn „einen grundehrlichen Menschen, der sich für seinen Kiez engagiert und seine Kontakte nutzt, um Verbesserungen zu erreichen“. Um seine Unterstützerunterschrift bat ihn Lange jedoch vergeblich: Dessen Bewerbung könnte ihn Stimmen kosten, sagt Scheffler – Stimmen, die ihm im Kampf um das Direktmandat fehlen könnten.
Anders als Lange kandidiert Ralf Engelke (39) zum ersten Mal. Pankow ist sein Wahlkreis, Arbeitslosigkeit der zentrale Punkt seines Wahlkampfs. Das liegt nahe: Seit drei Jahren ist der gelernte Fotolaborant arbeitslos. „Entwicklung von neuer Arbeit“ und Umverteilung fordert er auf seiner Internetseite, einen Friedensminister soll es geben, Abgeordnete sollen nur noch halbtags arbeiten, „um mehr Zeit bei den Bürgern zu verbringen“. Engelke, der als Fahrer von Antje Vollmer mal den Grünen nahe stand, ging mit auf die Straße, als jüngst ein paar dutzend Demonstranten vom Berliner Runden Tisch der Erwerbslosen gegen die Vorschläge der Hartz-Kommission protestierten. „Warum hat denn da keine Arbeitsloseninitiative mit am Kommissionstisch gesessen?“, kritisiert er.
Auch beim Spaziergang der Initiative Bankenskandal im Grunewald war Engelke dabei – und traf einen anderen Einzelbewerber. Kurt Schettlinger, (62), Ex-Ingenieur, zu DDR-Zeiten im Glühlampenwerk tätig, war nach der Wende arbeitslos und ist jetzt Rentner und Direktkandidat in Friedrichshain-Kreuzberg. Er macht Wahlkampf mit dem Fahrrad, an dem sein einziges Plakat hängt, ganz nach seinem Wahlspruch: „Für Plakate keine Mark, alles für die Jugendgruppenfahrt.“ Kinder- und Jugendarbeit ist sein zentrales Anliegen, hier soll der Staat mehr Geld locker machen. 500 Jungen und Mädchen hat er nach eigener Zählung seit 1965 das Tauchen beigebracht, doch seit Jahren liegt sein Verein brach.
200 Infokarten hat Schettlinger verteilt, mit 1.000 Menschen will er gesprochen haben. Die Reaktionen hätten ihn ermuntert, seine Kandidatur „aussichtsreich“ zu nennen – ungeachtet des Ergebnisses der letztjährigen Wahl zum Abgeordnetenhaus. Dort bekam Schettlinger 131 von über 24.000 gültigen Stimmen.
Mehr als doppelt so viele Stimmen erhielt im gleichen Bezirk Silvio Berger (35), geboren in Hoyerswerda, ein Diplom-Kaufmann, der seit 1998 politische Wissenschaften studiert. „Ich wollte mehr machen, als nur im Seminar sitzen“, sagt er zu seiner damaligen Kandidatur. Doch nicht allein das: „Es ist für die Persönlichkeit wichtig, den Horizont zu erweitern.“ 308 Stimmen im vergangenen Jahr hätten ihn ermuntert, seinen politwissenschaftlichen Feldversuch zu wiederholen.
Zusätzliche Herausforderung sei die höhere Zulassungshürde gewesen: Nicht 50 Unterstützerunterschriften wie bei der Berliner Wahl, sondern vier Mal so viel musste er dieses Mal zusammenbringen. „Drei Wochen lang habe ich nichts anderes gemacht, als die zu sammeln.“
Politisch schwankt Berger zwischen Sympathie für Kanzler Schröder – „dass der den Scharping gefeuert hat, finde ich gut“ – und für die FDP. „Den Herrn Westerwelle finde ich auch ganz gut“, sagt er, „der kennt sich so gut aus im Steuerrecht.“ Doch keine der Parteien habe ihm auf Anfragen wirklich und ausreichend geantwortet. „Da war ich enttäuscht, und das hat mich noch bestärkt, als Einzelbewerber anzutreten.“ Berger selbst würde sich im Bundestag für den Bezirk und seinen Kiez einsetzen wollen.
Wie Lange, Engelke und Schettlinger muss auch Berger damit fertig werden, dass seine Bewerbung in der Öffentlichkeit, in Diskussionsrunden und Wahlforen keine oder kaum eine Rolle spielt. Das will er allerdings erwartet haben. „Mir war ja schon von vornherein klar, dass man als Einzelbewerber immer belächelt wird“, sagt Berger. Auch von Mutter und Schwester würde er hören, er solle sich lieber einen Job suchen, statt zu kandidieren. Aber da seien ja die Freunde, „und die stehen voll hinter mir“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen