: Der New York City Boy
Er lebt in Brooklyn, er hat es geschafft: Jonathan Lethem ist nicht nur in seinem Viertel ein Star. In Deutschland ist jetzt sein Campus- und Sci-Fi-Roman „Als sie über den Tisch kletterte“ erschienen
von TOBIAS RAPP
In Jonathan Lethems Roman „Motherless Brooklyn“ zieht die Hauptfigur Lionel Essrog an einer Stelle nachts um seinen Block und wundert sich über die Gäste in einer Bar. Essrog kann nicht verstehen, wer diese Leute sind und warum sie den weiten Weg aus Manhattan zurücklegen, um sich ausgerechnet in dieser heruntergekommenen Gegend im Boerum Hill Inn zu betrinken – nur um anschließend wieder in ihre überteuerten Wohnungen nach Manhattan zurückzufahren. Die Besucher dieser Bar scheinen aus einer anderen Welt zu kommen. Essrog arbeitet für eine als Carservice getarnte Detektivagentur, die eigentlich eine Außenstelle der italienischen Mafia ist, und er sucht nach den Mördern seines Chefs: Es sind die frühen Achtziger, und Brooklyn ist tough guys’ territory.
Nun spielt das Boerum Hill Inn eigentlich keine tragende Rolle in „Motherless Brooklyn“, aber wenn man Jonathan Lethem besucht, stellt man fest, dass es einer der wenigen Orte des Romans ist, den es tatsächlich noch gibt. Die Bar liegt in der gleichen Straße wie Lethems Wohnung. Würde Lionel Essrog allerdings heute vor dem Barfenster stehen und durch das schmiedeeiserne Ziergitter schauen, die Rollen wären vertauscht. Denn auch wenn die Barbesucher vielleicht noch die gleichen sind: Sie wohnen nicht mehr in Manhattan, sondern in den Häusern der Umgebung. Die Welt des Lionel Essrog dagegen, die Welt der Kleinganoven und Eckensteher, ist an den Rand von Boerum Hill gedrängt worden. Wo früher billige Kneipen waren, haben mittlerweile französische Restaurants eröffnet, in denen das Gericht zwanzig Dollar kostet.
Gentrifizierung nennt man diesen Prozess, der, je nach politischer Perspektive, als soziale Aufwertung armer Stadtviertel bzw. als Yuppisierung bekannt ist. Jede Stadt kennt ihn, in New York, wo nicht nur die Häuser, sondern auch die Mieten höher sind als anderswo, schreitet er nur besonders schnell und besonders gründlich voran. „Das Viertel ist zwar vollständig umgekrempelt worden“, sagt Jonathan Lethem, „aber wenn man die Vergangenheit kennt, kann man sie immer noch spüren.“ Lethem ist Ende dreißig, und während er spricht, hört man die riesigen Geländewagen, das Statussymbol der neuen amerikanischen Mittelschicht, unter dem Fenster seines Arbeitszimmers vorbeifahren.
Lethem ist in Boerum Hill aufgewachsen, und wenn die soziale Aufwertung einer Gegend damit beginnt, dass Künstler sich in die billigen Wohnungen eines Arbeiterviertels einmieten, dann hat er sie von Anfang an miterlebt. Seine Eltern waren Hippies, die in den Sechzigern hierher zogen. Sein Vater war Maler, eine Gabe, die Jonathan zunächst geerbt zu haben glaubte. Nach einer Weile brach er seine Ausbildung auf einer Kunsthochschule jedoch ab und entschied sich Schriftsteller zu werden. Damals war er 19. Bald darauf verließ er New York, um nach Kalifornien zu gehen, wo er zehn Jahre lang blieb.
„ ‚Motherless Brooklyn‘ ist eine Liebeserklärung“, sagt Lethem. „Es ist ein Lovesong, den ich nach meiner Rückkehr nach Brooklyn geschrieben habe und in dem ich die Energie und Leichtfertigkeit des Straßenlebens dieses Viertels umarme. Dinge, zu denen ich vorher eigentlich ein gespaltenes Verhältnis hatte.“ Man kann sich den Schock vorstellen, den Lethem bei seiner Rückkehr aus Kalifornien erlebte. Das Brooklyn, das er verlassen hatte, war nicht sonderlich freundlich zu ihm gewesen, dem white kid in der black neighbourhood. Doch dort, wo ihm als Schüler noch ein Messer an den Hals gehalten wurde, konnte man nun auf einmal Milchkaffee trinken.
Die ungezügelte Energie der Straßen von Brooklyn spiegelt sich in der Figur Lionel Essrogs, der unter dem Tourette-Syndrom leidet – einer Krankheit, zu deren Symptomen es gehört, ständig Dinge anzufassen und in den unpassendsten Augenblicken Unfug zu reden. Doch „Motherless Brooklyn“ ist nicht nur eine Hommage an ein Stadtviertel. Genauso ist der Roman eine wunderbare Genremischung, die eine Krankheitserzählung und die linguistischen Überschläge des Tourette-Syndroms mit der Geschichte eines Waisenjungen verbindet – zusammengehalten durch den Rahmen eines Hard-Boiled-Krimis. Dieses Vermischen verschiedener literarischer Genres ist so etwas wie Lethems Markenzeichen, eine Methode, die er in Kalifornien entwickelte.
Schaut man sich in seiner Wohnung um, so stapeln sich die Überreste seiner Zeit an der Westküste. Dort arbeitete er als Buchhändler, und Bücher reihen sich nicht nur an allen Wänden hoch bis unter die Decke, sie stehen auch in akkuraten Türmen auf dem Fußboden: „Lesen und Schreiben haben für mich immer zusammengehört. Schreiben war für mich wie eine Unterhaltung mit anderen Büchern, call and response. Ich habe nie ein Tagebuch geführt, sondern immer nur geschrieben, um zu kommunizieren. Es war wie eine Art von Mimikry.“
Für seinen Erstling „Knarre mit Begleitmusik“ kreuzte er den Hard-Boiled-Krimi mit einer Science-Fiction-Geschichte, für „Girl In Landscape“ transponierte er den Westernroman in die ferne Zukunft. Auch „Als sie über den Tisch kletterte“, im Original 1997 erschienen und gerade auf Deutsch herausgekommen, funktioniert nach diesem Prinzip. Es verbindet die Campussatire mit Science-Fiction-Elementen.
So experimentell sich das anhört: Lethems Bücher verbinden verschiedene Genres vor allem, um neue und überraschende Geschichten zu erzählen. Philip Engstrand, der Held in „Als sie über den Tisch kletterte“, ist ein „Professor für Professorenforschung“, der seine Habilitionsschrift über „Theorie als Neurose des Berufswissenschaftlers“ verfasst hat und seinen Studenten dazu ermuntert, die geografische Verteilung von Spielern auf einem College-Fußballfeld im Augenblick nach der Verletzung eines Spielers zu untersuchen. Engstrands Lebensgefährtin, eine Teilchenphysikerin, ist diejenige, die versucht „über den Tisch zu klettern“ – einen Tisch, hinter dem sich das „Leck“ öffnet, ein Loch im Raum-Zeit-Kontinuum. Das Leck verhält sich wie ein Lebewesen. Schiebt man etwa verspiegelte Sonnenbrillen hinein, verschwinden sie, Krawatten, Rühreier oder auch Engstrands Lebensgefährtin verschmäht es jedoch.
Fragt man Lethem nach seiner Vorliebe für Genreliteratur, sagt er, es sei ihm um das Handwerk gegangen, die strengen Formvorgaben, das Gerüst: „Nimm eine Campussatire: Es gibt immer bestimmte Dinge. Die Party, die außer Kontrolle gerät, Institutspolitik – außerdem muss man das Ganze am Ablauf des akademischen Jahres entlang strukturieren. Das fand ich lustig und dachte mir, das kann ich auch.“ Aber auch wenn man erst einmal auf eine Idee kommen muss wie die, Studenten gegen ein Leck auf dem Campus demonstrieren zu lassen, weil es im Weltraum schließlich schon genug „Nichts“ gebe und die Ressourcen der Universität menschenfreundlicher genutzt werden sollten – ein wenig kommt einem das Buch vor, als sei es die Vorarbeit zu „Motherless Brooklyn“ gewesen: eine Fingerübung in Lethems literarischer Methode.
Nun ist Science-Fiction ein Genre, das es ohnehin nicht eben leicht hat, in Deutschland noch weniger als in den USA. Und ohne den Erfolg von „Motherless Brooklyn“ würden die Übersetzungen von Lethems Büchern wahrscheinlich nicht im kleinen, aber feinen Kölner Tropen Verlag erscheinen, sondern in einem großen und weniger feinen Verlag wie Heyne, der auch „Knarre mit Begleitmusik“ veröffentlichte.
„Motherless Brooklyn“ ist jedoch nicht nur das Buch, mit dem Lethem in Deutschland bekannt geworden ist und für das er in den USA den renommierten Book Critics Circle Award verliehen bekam. Es hat Lethem auch zu so etwas wie einem Brooklyner Heimatschriftsteller gemacht. Ein Buchladen in Boerum Hill hat über tausend Exemplare des Buchs verkauft. Und dieser Erfolg liegt vor allem an Lethems elegantem Spiel mit den Erwartungen und Sehnsüchten der neuen Bewohner Brooklyns – eines Stadtteils, der tatsächlich mit dem Spruch „Believe the hype!“ für sich wirbt.
Produziert die Gentrifizierung doch ein interessantes Paradox: Diejenigen, die sie betreiben, sind gleichzeitig diejenigen, die sie am lautesten beklagen. Die Gentrifizierung ist ein gerne gesehener Gast in den Gesprächen derjenigen, die von ihr profitieren. Dabei mischt sich meistens das Bedauern, dass da eine Welt versunken ist, mit der Freude, dass man Zeichen dieser Welt an den Wänden seines Blocks entdecken kann. Ein Paradox, dessen sich Lethem wohl bewusst ist: „Es gibt immer diese Sehnsucht nach dem Garten Eden, eine falsche Nostalgie, die von dem Glauben lebt, früher sei es einmal einfacher gewesen. Das ist natürlich Unfug. Es war immer schwierig.“
Von diesen Schwierigkeiten – von diesem „We live in Brooklyn, baby, we’ve gotta make it, baby“, wie es in einem alten Roy-Ayers-Song heißt – soll der neue Roman Lethems handeln, den er nach vier Jahren Arbeit gerade fertig geschrieben hat und dem nur noch ein Titel fehlt. Ein Buch, das anders sein wird als die Romane, die Lethem bisher veröffentlicht hat: Es wird keine Anleihen bei der Genreliteratur geben und statt der Anderthalb-Nachmittags-Länge seiner bisherigen Bücher einen Umfang von 700 Seiten haben.
Es soll um den Sänger einer Soulgruppe gehen, der sich an einer Solokarriere versucht – und um das Aufwachsen eines weißen Jungen in einer schwarzen Neighbourhood in den 70er-Jahren: „Wenn man so will“, sagt Lethem und grinst, „wird dieses Buch eine weniger berauschte und stärker durchdachte Reaktion auf meine Rückkehr nach Brooklyn sein.“
Jonathan Lethem: „Motherless Brooklyn. Erzähl deine Geschichte im Gehen“. Aus den Amerikanischen von Michael Zöllner. Tropen Verlag, Köln 2001, 370 Seiten, 19,80 € Ders.: „Als sie über den Tisch kletterte“. Aus dem Amerikanischen von Michael Zöllner. Tropen Verlag, Köln 2002, 224 Seiten, 17,80 €
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