: Die neue Souveränität
Berliner Agenda (2): Schröder konnte den „deutschen Weg“ verkünden, weil er kein Nationalist ist. Jetzt muss Rot-Grün den Weg mit durchdachten Konzepten beschreiten
Deutschland ist nicht nur blockiert, sondern auch unruhig und verunsichert. Zwölf Jahre nach der Wiedervereinigung ist ein Narr, wer glaubt, die politischen Konstanten der alten Bundesrepublik hätten noch Bestand. Das gilt für die unbedingte Loyalität gegenüber den USA ebenso wie für die zurückhaltende Formulierung deutscher Interessen auf der internationalen Bühne. Die Deutschen sind auf einer Reise zu sich selbst, und deshalb ist Schröders Rede vom „deutschen Weg“ eine ehrliche, wirksame und zugleich unangenehme Formulierung.
Ein Land, das sich Jahrzehnte lang an die Vormundschaft der USA und die Geborgenheit der Bündnisse Nato und EU gewöhnt hatte und mit dem Verzicht auf Souveränität gut gefahren war, stellt plötzlich fest, dass über die existenziellen Fragen, die das deutsche Volk betreffen, in Berlin und nirgendwo sonst entschieden wird. Dieses vom Kanzler während des Wahlkampfes immer wieder aufgestellte Postulat, eigentlich eine Selbstverständlichkeit für jedes freie Land, deutet auf einen Paradigmenwechsel, der Gefahren, aber auch Chancen in sich birgt.
In den USA, aber auch in den europäischen Nachbarstaaten wird der kürzlich erfolgte Stimmbruch des Zöglings mit gemischten Gefühlen wahrgenommen. Vor allem die schrillen Töne der letzten Tage vor der Wahl haben nicht nur verwirrt, sondern auch für Unmut gesorgt. Doch nicht diese Misstöne im Verhältnis Deutschlands zu seinen Partnern sind das eigentliche Problem. Viel bedeutender ist die Frage, wohin der deutsche Weg führt? Und wer ihn geht?
Es ist ein Glücksfall, dass es die rot-grüne Koalitionsregierung mit ihrem besonnenen Außenminister ist, die Deutschland auf dem Selbstfindungspfad führen wird. Hätte die Union Verantwortung übernommen, hätte sie sich sowieso nicht auf diesen Weg getraut. Zu groß wäre ihre durchaus berechtigte Angst vor dem eigenen nationalen Schatten gewesen. Deswegen spielen die Konservativen in Deutschland die nationale Karte seit Jahrzehnten ausschließlich in der Innenpolitik, vor allem gegenüber Zuwanderern und Minderheiten. Doch auch hier ist vieles in Bewegung gekommen. Verglichen mit den unverblümten Fremdenangstkampagnen der Kohl-Ära, war die von den Unionsparteien im Wahlkampf halbherzig angestimmte Zuwanderungsdebatte eine geradezu philanthropische Veranstaltung.
Erst wenn die Union die letzten Reste der Fremdenfeindlichkeit abgestreift hat, wird auch sie sich auf den deutschen Weg machen können. Ein Weg, der eben nicht zu einer in den Abgründen der Geschichte verschwundenen deutschnationalen Interessenpolitik führt, sondern die Interessen des Nationalstaats unter den Bedingungen der Globalisierung auslotet. Bis dahin aber bleibt sie eine Partei der alten Bundesrepublik. Ein Treppenwitz der Geschichte, wenn man bedenkt, dass die Wiedervereinigung das Lebenswerk und die historische Leistung Helmut Kohls war. Kohl und Schäuble brachten damals alles unter Dach und Fach, aber sich selbst nicht ins Lot. Sie hatten es verpasst, sich neu zu positionieren. Sie sind Fremde im wiedervereinten Deutschland geblieben, Männer der Geschichte.
Die meisten CDU-Stimmen zum Wahlergebnis werfen Gerhard Schröder Demagogie und Populismus vor. Das ist viel zu einfach und zu billig. Viel interessanter wäre nämlich die Frage, warum die Taktik des Bundeskanzlers aufgegangen ist, Deutschland als eine der Weltmacht USA trotzende Kraft aufzustellen.
Zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte hat die nach außen gespielte nationale Karte funktioniert und im selben Zug für eine Entlastung nach innen gesorgt. Schröders kritische Haltung gegenüber dem mächtigen Bündnispartner überwog in der Wählerstimmung das chronische Ressentiment gegenüber der Zuwanderung. Mancher Wähler denkt vielleicht, wer so mit Amerika umgeht, wird auch mit den Türken im Inneren fertig.
Die Konservativen in Deutschland bleiben dagegen Papiertiger, die ihre nationalen Gefühle mehr oder weniger verschämt nach innen richten, manche gar so weit nach innen, bis sie sich in den tiefsten Schichten der Volksseele ablagern. Dort schlummern sie als eine gefährliche und unberechenbare Kraft.
Ein modernes und weltoffenes Deutschland braucht sich nicht zu verstecken. Es kann und sollte auch selbstbewusst auftreten. Doch die Sprache dieses Auftritts muss noch eingeübt werden, um Missverständnissen vorzubeugen. Es kommt jetzt darauf an, die Kinderkrankheiten des neu erwachten Selbstbewusstseins zu überwinden und weiter Kurs zu halten auf Europa. Wenn im Feld der Außenpolitik nicht das passieren soll, was in der ersten Legislaturperiode mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik der rot-grünen Regierung passiert ist, nämlich ein zu hastiges, wenig durchdachtes Konzept für Reformansätze, die schnell verblasst sind, muss eine genaue Fehleranalyse des ersten Auftritts erfolgen.
Vor allem aber geht es darum, im Inneren Frieden zu schließen mit Menschen, die nicht deutscher Herkunft sind, sich aber als Deutsche verstehen. Denn die Ideologie der Vorgestrigen spiegelt sich nicht in einer kritischen Haltung gegenüber den USA wider – das Gespenst des Antiamerikanismus ist ebenfalls ein Relikt aus der alten Bundesrepublik –, sondern in der Berührungsangst gegenüber den Fremden im eigenen Land. Schröder hat sich jetzt viel Freiraum geschaffen, um im Inneren vor allem das Verhältnis zu den deutschen Türken weiter zu entlasten. Die neue Legislaturperiode wird zeigen, ob er es versteht, diesen Freiraum zu nutzen, um die Integration nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Republik, insbesondere im Bereich der Bildung und der Kultur, voranzutreiben.
Kaum eine Wahlanalyse ist bislang darauf eingegangen, dass die wahlberechtigten Türken in Deutschland mit überwältigender Mehrheit die SPD gewählt haben. Ohne diese Stimmen würde die SPD wohl kaum die stärkste Fraktion im Bundestag stellen. Inzwischen sind die deutschen Türken für die Sozialdemokraten so etwas wie die Bayern für die Unionsparteien. Dass dieser nicht unbedeutende Faktor in den Analysen kaum berücksichtigt wurde, zeigt, wie gehemmt sich die deutsche Gesellschaft nach wie vor verhält, wenn es darum geht, jene Veränderungen zu registrieren, die am ethnisch geleiteten Selbstverständnis der Deutschen rütteln. Die meisten deutschen Medien sind noch dem Bild des stimmenlosen Ausländers verhaftet. Auch sie sind, ähnlich wie die Unionsparteien, noch nicht im Deutschland des Jahres 2002 angekommen. In absehbarer Zeit wird die Zahl der deutschtürkischen Stimmen die Millionengrenze erreicht haben. Spätestens dann wird man sich in der Union Gedanken machen müssen über das vergiftete Verhältnis zu dieser Wählergruppe. Oder sich dauerhaft in der Opposition einrichten.
ZAFER ȘENOCAK
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