: Keine Totenscheine
Künstliche Grenzen: Mit ihrer Arbeit „Solid Sea“ reflektiert die italienische Künstlergruppe Multiplicity Flüchtlingsprobleme im mediterranen Raum
von MARGARETH OBEXER
„Es war nichts“, ungefähr so reagierte die italienische Behörde fast fünf Jahre lang auf Fragen zu einem Unglück, das sich Weihnachten 1996 ereignete: Nicht weit vor der Südküste Siziliens versank ein Fischkutter mit 283 Flüchtlingen an Bord.
Wochen danach gingen den Fischern Leichenteile ins Netz, manchmal ganze Körper; einzelne meldeten den Fund, wurden aber von der Hafenpolizei als lästiger Besuch wahrgenommen. Also warfen sie die Körperteile zurück ins Meer. Aus dem Fischkutter F 174 und seinen Toten wurde ein „Phantomschiff“, aus einer der größten Flüchtlingstragödien eine offizielle Legende. Erst die in Plastik eingeschweißte Identitätskarte des siebzehnjährigen Anpalagan Ganeshu rettete die Verschollenen vor einem zweiten Untergehen. Ein Fischer gab sie der italienischen Tageszeitung La Repubblica, woraufhin im Juni 2001 eine roboterbetriebene Kamera in die Tiefe geschickt wurde.
Eine Zeit lang beschäftigte das Bild vom Unterwasserfriedhof die italienische Öffentlichkeit, Prominente wie Dario Fo lancierten Petitionen, in denen sie die italienische Regierung aufforderten, wenn schon nicht das Wrack, so zumindest die Toten zu bergen. Laut territorialer Grenzziehung liegt das Boot knapp außerhalb der italienischen Hoheitsgewässer – und da sich kein Italiener unter den Toten befindet, wäre eine Bergung keine Verpflichtung, sondern eine rein humanitäre Angelegenheit. Bisher ist nichts geschehen. Und noch immer sieht sich kein Land, das an diesem Flüchtlingstransfer beteiligt war, in der Verantwortung, Totenscheine auszustellen. Für Maddalena Bregani, eine der Gründerinnen von „Multiplicity“, ist Italien das Land, das dazu am lautesten schweigt.
Die aus Architekten, Soziologen, Kartografen, Fotografen, u. a. bestehende Gruppe behandelt den Fall in ihrem jüngsten Projekt „Solid Sea“, das heute in der Volksbühne im Rahmen der Internationalen Mobilen Akademie gezeigt wird. In ihren Arbeiten setzt sich „Multiplicity“ mit den urbanen Räumen auseinander und mit den Veränderungen, die diese Räume aufgrund von veränderten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Handlungsweisen erfahren. Die Künstlichkeit von Grenzen und ihr umgekehrt essenzieller Einfluss auf die Menschen innerhalb und außerhalb der Räume, die von Grenzen definiert sind, ist naturgemäß ein immer wiederkehrendes Motiv.
Im gegenwärtigen Projekt steht der mediterrane Raum, seine frühere und jetzige Bedeutung sowie die zahlreichen Länder, die ihn sich teilen, im geografischen Brennpunkt. Ein dunkler Raum birgt acht Monitore, die ringsum aufgestellt sind. In ihnen äußern sich am Schiffsunglück direkt oder indirekt beteiligte Personen. Ein Stimmenwirrwarr, in das man hineingerät und das sowohl akustisch als auch inhaltlich nur durch eine auf den einzelnen Monitor bezogene Konzentration voneinander unterscheidbar ist. Es zeigt sich, dass die einzelnen Darstellungen voneinander abweichen – die Wahrheit ist verschollen.
In einem Documenta-Seminar, das „Multiplicity“ am 13. September gab, erklärte Stefano Boeri, einer der Gründer, dass angesichts der Recherchen die Frage nach der adäquaten Umsetzung vordergründig war – und damit nicht die nach der künstlerisch innovativsten. Ihre Arbeit ist nicht als abgeschlossenes Statement zu begreifen, sondern als Zwischenergebnis einer Reflexion, an deren Fortsetzung eine mögliche Vertiefung stehen soll. In einem zweiten Raum wird der Gedanke einer polyvalenten Perspektive auf visueller Ebene fortgesetzt: zwei Großbildschirme stehen sich gegenüber, der eine zeigt eine Satellitenaufnahme der Erde mit einem Pfeil, der auf das verschwindende Stückchen Sizilien weist – eine Weltsicht, die alles relativiert, ähnlich wie die Tickermeldungen von Flüchtlingstragödien in Zeitungen, wo sie kaum größer sind als die täglichen Berichtigungen.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes hingegen die detailversessene Aufnahme des Roboters. Im Gegensatz zum globalen, alles umfassenden Blickfeld hier die kleinteilige und verschwommene Unterwasseraufnahme, die nur nicht identifizierbare Teile erfasst, nie das Ganze. Eine merkwürdige Gier stellt sich ein, die den Betrachter auf sich selbst zurückwirft: in einem Gegenstand, der einem Hölzchen ähnelt, wird ein Armknochen gesucht, in einem rundlichen, an einen Stein erinnernden Gegenstand wird ein Schädel entdeckt – ob es dabei nur der Gier des Auges geschuldet ist, die befriedigt werden will?
Solid Sea; heute bis So, in der Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz.(Margareth Obexer ist Theaterautorin und arbeitet zurzeit an einem Theaterprojekt zum Fischkutter F 174).
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