Der schwierige Altachtundvierziger

Der Historiker Theodor Mommsen schrieb so unakademisch, dass er 1902 den Literaturnobelpreis erhielt. Jetzt gibt‘s eine Biografie zum Jubiläum

„Meine Vorlesungen langweilen mich und also vermutlich auch mein Publikum“

von RALPH BOLLMANN

Am Ende seines Lebens war der Historiker ein Star. Selbst ein harmloser Zusammenstoß mit einer Droschke, den der 85-jährige Gelehrte glimpflich überstand, war den Zeitungen im Februar 1903 einen Bericht wert. Schließlich hatte Theodor Mommsen, emeritierter Professor an der Berliner Universität, wenige Monate zuvor den Nobelpreis für Literatur erhalten – als erster Deutscher und als zweiter Preisträger überhaupt. Seine mehrbändige „Römische Geschichte“, so rühmte die Schwedische Akademie, weise Mommsen als den „größten lebenden Meister der historischen Darstellung“ aus. In der Reihe der deutschen Nobelpreisträger steht er heute als einziger Historiker neben Autoren wie Thomas Mann oder Günter Grass.

In diesem Herbst jährt sich die Preisverleihung an Mommsen zum hundertsten Mal, und am 1. November 2003 wird die Fachwelt den hundertsten Todestag des Großgelehrten begehen. Anlass genug für eine neue Mommsen-Biografie, die der Mannheimer Historiker Stefan Rebenich jetzt herausgebracht hat. Auf übersichtlichen 230 Textseiten arbeitet er sich durch die Facetten einer ungewöhnlich vielseitigen Persönlichkeit.

Mommsen selbst habe zeitlebens darunter gelitten, schreibt Rebenich, dass sein politisches Engagement in der Öffentlichkeit nicht die gleiche Wertschätzung erfuhr wie seine wissenschaftliche Arbeit. Als Journalist während der Revolution von 1848, als politischer Emigrant in Zürich, als Abgeordneter im Preußischen Landtag und im Deutschen Reichstag kämpfte der studierte Jurist für seine liberalen Ideale – und hielt gleichermaßen Abstand von den Konservativen, Klerikalen und radikalen Demokraten.

Mit seinem Nonkonformismus stieß er, was auch bei modernen Historikern vorkommen soll, selbst die eigenen Gesinnungsgenossen bisweilen vor den Kopf. So nahm er in einem Beitrag für die Wiener Neue Freie Presse zum Konflikt um den tschechischen Nationalismus Stellung und ließ „seinen Vorurteilen gegen die slawische Kultur freien Lauf“, wie Rebenich schreibt. Der genaue Inhalt dieses Vorurteils bleibt allerdings unklar, weil der Autor – wie an vielen anderen Stellen – auf ein wörtliches Zitat verzichtet.

Altersdepression und politische Frustrationen führten den Altachtundvierziger am Ende seines Lebens in tiefe Resignation. In einem Brief an seine Frau äußerte er bereits 1885 den Wunsch nach einem namenlosen Grabstein, denn er wolle „von dieser Nation ohne Rückgrat persönlich so bald wie möglich vergessen sein“. In seinem Testament erklärte er sein politisches Streben, „ein Bürger zu sein“, endgültig für gescheitert: „Das ist nicht möglich in unserer Nation, bei der der Einzelne, auch der Beste, über den Dienst im Gliede und den politischen Fetischismus nicht hinauskommt.“

Umso tiefer stürzte sich Mommsen in immer gigantischere Editionsprojekte, die auch wohlmeinende Kollegen für kaum noch realisierbar hielten. Er bewältigte ein Arbeitspensum, das selbst im rastlosen Publikationsbetrieb unserer Tage kaum noch vorstellbar ist. Seine Frau hielt ihm dabei den Rücken frei, und seinen 16 Kindern war der Zutritt zum Arbeitszimmer strikt verboten, wie Rebenich in einem knappen Abriss des Familienlebens schreibt.

Entspannung fand Mommsen allenfalls beim „befreienden Vater“ Wein. Laut einem Bonmot des Soziologen Max Weber vertrug er zwei Gläser davon, trank aber immer drei. Ganz beiläufig erwähnt Rebenich, dass der junge Weber von Mommsen „zu seinem legitimen Nachfolger ausgerufen“ wurde. Auch hier führt er weder einen Nachweis noch ein Zitat an, das den Charakter dieses akademischen Ritterschlags erhellen könnte.

Eminent modern war Mommsen als früher Organisator wissenschaftlicher Großforschung – ein Aspekt, dem sich Rebenich mit ermüdender Detailversessenheit widmet. Mommsen erreichte mit Intrigen, Erpressung und guten Beziehungen, dass die Berliner Akademie das Personal seiner stetig wachsenden Projekte finanzierte. Seine Mitarbeiter führte er, so Rebenich, „wie der preußische Generalstab die deutsche Armee“. Weniger Interesse zeigte er an der akademischen Lehre. Ganz unverblümt gestand er: „Meine Vorlesungen ennuyieren mich und also vermutlich auch mein Publikum.“

Indem Rebenichs Biografie auch solche Defizite ausgiebig würdigt, hebt sie sich wohltuend von früherer Mommsen-Hagiografie ab. Trotzdem bleiben die verschiedenen Aspekte unverbunden, bleibt das Bild von Mommsens Persönlichkeit insgesamt blass. Die Anschaulichkeit opfert der Autor dem Zwang zur Totalität. Mit Originalzitaten geht er höchst sparsam um, Zusammenhänge deutet er oft nur allzu knapp an. So erwähnt Rebenich zwar, dass Mommsen den antisemitischen Tiraden seines Berliner Kollegen Heinrich von Treitschke entgegentrat – was es mit diesem berühmt gewordenen „Antisemitismusstreit“ genau auf sich hatte, erfährt der Leser allerdings nicht.

Mag sein, dass die Ansprüche durch ambitionierte Gelehrtenbiografien wie Friedrich Lengers Buch über den Soziologen Werner Sombart allzu sehr in die Höhe geschraubt wurden. Aber gerade eine weniger umfassende Arbeit wie Rebenichs Mommsen-Biografie hätte nach einer stärkeren Zuspitzung, nach einer pointierteren These verlangt.

Wie das funktioniert, hätte sich der Autor bei Mommsen selbst abschauen können. Dessen „Römische Geschichte“ ist in jeder Hinsicht ein Buch, das ein deutscher Professor heutzutage gar nicht mehr schreiben dürfte: Mommsen behelligte den Leser nicht mit einer Diskussion der Forschungsliteratur, und er bemühte sich gar nicht erst, die römische Republik aus ihrer eigenen Zeit heraus zu verstehen. Stattdessen legte er radikal die Maßstäbe seiner eigenen Zeit an. Er projizierte die revolutionären Kämpfe von 1848 in die Vergangenheit und verherrlichte Cäsars Regiment als Inbegriff einer „intelligenten und humanen Regierung“. Kaum jemand wird diese provozierende These heute unterstützen. Trotzdem ist es gerade diese Zuspitzung, die das mehrbändige Werk immer noch lesbar macht.

Ein bisschen mehr von jener Leidenschaft, die in dem Kapitel über die „Römische Geschichte“ immerhin aufblitzt, hätte dieser Biografie insgesamt gut getan – ganz nach der Devise, die Mommsen einst seinen Söhnen mit auf den Weg gegeben hat: „Tu, was du willst; doch tu’s mit Leidenschaft.“

Stefan Rebenich: „Theodor Mommsen. Eine Biographie“, 272 Seiten, C. H. Beck, München 2002, 26,90 €