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Eine kurze liberale Karriere

Nach nur einem Jahr verlässt der erste Abgeordnete die FDP-Fraktion. „Die Antisemitismusdebatte“ gibt Wolfgang Jungnickel als Ursache an. Weitere Mitglieder sind mit Fraktionsführung zerstritten

In der FDP wächst der Unmut über den Fraktionschef Martin Lindner

von ROBIN ALEXANDER

Eigentlich wollte die FDP-Fraktion in dieser Woche Alternativen zu den Sparplänen der rot-roten Koalition vorstellen. Die gehen nun unter, denn wieder einmal steht die liberale Fraktion selbst im Zentrum der Aufmerksamkeit. Wolfgang Jungnickel, mit 74 Jahren der älteste Berliner Abgeordnete, tritt aus der FDP und ihrer Parlamentsfraktion aus.

„Ursache für den Austritt ist die so genannte Antisemitismusdebatte“, heißt es in einem Schreiben Jungnickels. Im Weiteren verweist er auf Jürgen Möllemann und dessen Polemik gegen den Zentralrat der Juden und die israelische Regierung. Jungnickel ist selbst jüdischer Herkunft. Gegenüber der taz fügte er hinzu: „Dies ist nicht nur an die Person Möllemann gebunden, da hat sich ein schlimmes Umfeld in der FDP entwickelt.“

Schon einmal hatte er Kritik an Möllemann und an Guido Westerwelle geübt. Im Mai forderte er gar den Rücktritt des Parteivorsitzenden und seines Stellvertreters. Nach einer Fraktionssitzung, in der Wolfgang Jungnickel scharf kritisiert worden war, nahm er jedoch seine Rücktrittsforderungen öffentlich zurück. Heute sagt Jungnickel, schon damals habe er den Entschluss gefasst, die Partei zu verlassen. Nur „aus Loyalität“ habe er damit bis nach den Bundestagswahlen gewartet: „Die Fraktion der FDP wurde bereits vor der Sommerpause in einer Fraktionssitzung von diesem Schritt unterrichtet.“

Daran kann man sich bei der FDP allerdings nicht erinnern. Fraktionschef Martin Lindner wusste bis zu einem Gespräch am Montag nichts von Jungnickels Vorhaben. Auch die anderen Fraktionsmitglieder waren überrascht, als Jungnickel am Dienstagabend in der Fraktionssitzung beim Punkt „Verschiedenes“ plötzlich seine Demission als Fraktionsmitglied ankündigte. Sein Mandat will Jungnickel behalten und künftig „sozialliberale Positionen“ vertreten. Einen Übertritt zu einer anderen Fraktion schließt er aus.

In der FDP wächst der Unmut über Lindner, dem einige FDP-Abgeordnete vorwerfen, die Fraktion nicht führen zu können. So veranstaltete die FDP-Fraktion in der vergangenen Woche eine Ausstellung polnischer Kunst, die mit 2.500 Euro aus der Fraktionskasse finanziert wurde. Die Ausstellung geht auf Initiative des Abgeordneten Wolfgang Mleczkowki zurück. Beruflich veranstaltet Mleczkowski Messen, unter anderem mit polnischen Konsumgütern. Ungenannt bleiben wollende FDP-Abgeordnete witterten hier eine Verquickung von Fraktionsarbeit mit privaten Interessen, die Lindner hätte unterbinden müssen.

Auch der jetzt zurückgetretene Jungnickel verhielt sich als Abgeordneter extravagant. In den elf Monaten seiner Abgeordnetentätigkeit verbrachte er dreieinhalb Monate in Österreich und Venedig und arbeitete dort für eine Stiftung, die er gemeinsam mit seiner Frau betreibt. In der FDP-Fraktion hinterließ er nicht einmal eine Telefonnummer. So eine Sommer-Auszeit, kündigte Jungnickel an, wolle er nun jedes Jahr außerhalb Berlins verbringen. Als Alterspräsident hatte Jungnickel die 15. Wahlperiode des Abgeordnetenhauses eröffnet und war dort durch eine wenig präsidiale Rede aufgefallen, die sich vor allem mit seinem Spezialthema Kulturpolitik befasste. Jungnickel war schon einmal Mitglied des Abgeordnetenhauses – von 1971 bis 1975, damals für die CDU.

In der Fraktion rechnet man indes schon: „Einen weiteren Austritt darf es auf keinen Fall geben.“ Dann wäre die FDP-Fraktion – nach Jungnickels Abgang mit 14 Abgeordneten gleich groß wie die Grünen – endgültig zur kleinsten Kraft im Parlament schrumpfen. Außerdem droht bei einem weiteren Abgang der Verlust von Ausschusssitzen.

Aber erst in der vorigen Fraktionssitzung war es zu einem offenen Dissens zwischen Lindner und dem Abgeordneten Axel Hahn gekommen. Dieser hatte – wie Jungnickel, aber aus anderen Motiven – öffentlich den Rücktritt von Westerwelle gefordert und sich auf die „Gruppe der Nationalliberalen in der FDP“ berufen. Lindner ermahnte Hahn, Ähnliches in Zukunft zu unterlassen. Hahn zeigte sich uneinsichtig und kündigte an, weiter im Namen der „Gruppe der Nationalliberalen“ agieren zu wollen.

Auch der nun unabhängige Jungnickel, der kein Rechter ist, verdankt sein Mandat der Existenz eines sich selbst „nationalliberal“ nennenden Flügels in der FDP. Eigentlich sollte an seiner Stelle – Platz 1 der Bezirksliste Tempelhof-Schöneberg – die 21-jährige Sophie-Charlotte Lenski kandidieren. Aber die Jungliberale hatte sich in den Konflikt mit den Rechten im Bezirk verbissen. Die Parteiführung schloss mit Teilen von diesen Frieden und ließ Lenski überraschend fallen. Der Kompromiss: Auf Platz eins zog Jungnickel ins Parlament, auf Platz zwei Holger Krestel, nationalliberal.

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