: Wein, Angst und Rosen
Das Hochwasser in Sachsen hat auch einige Winzer getroffen. Inzwischen sind viele sichtbare Schäden behoben worden. Aber nicht alle Spuren lassen sich beseitigen
von TILL DAVID EHRLICH
Sachsen Ende Oktober. In den Weindörfern entlang der Elbe herrscht Hochbetrieb. Die Ernte hat die Flut verdrängt, zumindest bei den Winzern, die nicht unmittelbar betroffen sind. Die Spuren sind kaum noch sichtbar, wurden eilig beseitigt. Die meisten Winzer sind jetzt mitten in der Weinlese. Noch ist die Ernte nicht ganz eingeholt, aber es wird ein eher durchwachsener Jahrgang erwartet.Zum Glück ist die Ernte nicht komplett dem Hochwasser zum Opfer gefallen.
Für die Winzer ist es traditionell die härteste, aber auch die schönste Zeit des Jahres. Tag und Nacht sind sie gefordert. Jede Entscheidung beeinflusst, wie die Weine gelingen. Bis weit nach Mitternacht tropft jetzt täglich Most aus der Kelter. Konzentration und Anspannung bestimmen die Weingüter.
Aber im Weingut Schabehorn ist es still. Das Hoftor wirft im Abendlicht lange Schatten. Steffen Schabehorn starrt in seinen Hof. Der wirkt verwaist. Der große Rosenstrauch in der Mitte ist verblüht. Der 39-Jährige schließt das Tor; es ist aus Holz, drei Meter hoch und zweihundert Jahre alt. Seit der Flut wohnt er nicht mehr hier, hat mit seiner Familie im Dorf Notquartier bezogen. Unter der einstigen Wohnung liegt noch der Weinkeller. Seit zwei Wochen droht dort das Deckengewölbe einzustürzen. Steffen Schabehorn hat es am härtesten unter Sachsens Winzern getroffen. Das ist jetzt zwei Monate her. Aber es sind nicht nur die Schäden an Haus, Weinpressen und sonstigen Gerätschaften. Das Hochwasser hat die Schabehorns auch innerlich verändert.
Das grüne Tor ist die einzige Ausfahrt. Links und rechts stehen Weinstöcke. Sorte Weißer Burgunder, etwa dreihundert an der Zahl. Vielleicht mehr, vielleicht weniger. Aber das ist jetzt egal. Die Trauben sind längst reif, doch niemand wird sie ernten. Sie sind teilweise noch immer mit einer dicken Kruste bedeckt. Getrockneter Schlamm, silbergrau und giftig. Bevor man ihn sieht, riecht man ihn. Süß, fischig, modrig.
Das Weingut steht an der Uferstraße. Vier Kilometer sind es bis Meißen, elbabwärts. Hinter der Straße senkt sich die Böschung mehrere Meter, dann sind es noch mal zweihundert Meter bis zur Elbe. Es gibt keinen Deich. Die Elbe wirkt träge. So, als wäre nichts gewesen. Normalwasser, dreihundert Kubikmeter fließen pro Sekunde vorbei. „Noch nie“, sagt Thomas Herrlich, der Nachbar von Schabehorn, „noch nie ist das Wasser über die Straße gekommen.“ Das war nicht vorstellbar. Und deshalb nahm auch Herrlich in den ersten Tagen die Flut nicht wirklich ernst. Sein Weingut „Vincenz Richter“ ist nur wenige Minuten von Schabehorn entfernt. Aber es liegt höher.
Donnerstag, 15. August. Es ist Mariä Himmelfahrt und Nacht, zwei Uhr morgens. Das Wasser läuft über die Straße. Langsam, aber stetig. Es ist still. Eine gespenstische, unwirkliche Stille. Kein Autogeräusch. Nicht einmal ein Hund bellt. Die Energieversorgung ist zusammengebrochen. In diesem Moment begreift der Winzer die Gefahr. Seine Kellerei ist drei Meter von der Straße entfernt. Thomas Herrlich fährt sofort los, organisiert Sandsäcke. Das Wasser steigt schnell. Herrlich besorgt Plastikschaum, verklebt hastig Türen und Fenster. Fährt zweihundert Kilometer, um ein Notstromaggregat zu leihen. Wirft seine Weinpumpe an, um die Elbbrühe abzusaugen. Am Abend fließt die Elbe einen halben Meter über der Straße. Das Wasser drückt gegen die Türen. Kommt durch alle Ritzen. Die Pumpe läuft langsam, aber sie läuft.
Freitag, 16. August. Der Tag ist warm, sonnig und wolkenlos. Steffen Schabehorn paddelt an seinem Rosenstrauch vorbei. Das Schlauchboot ist grün, sein T-Shirt blau. Rosarot leuchten die Rosen. Alles wirkt unwirklich. Im Hof steht das Wasser einen Meter hoch. Die Sandsäcke, die Steffen Schabehorn an das Hoftor geschichtet hat, sind überflutet. Weinfässer schwimmen im Hof, Traktoren, Weinpressen stehen unter Wasser. Die Giftbrühe ist in seinen Weinkeller gelaufen. Sie dringt überall ein. Als Steffen Schabehorn am Hoftor steht, reicht ihm das Wasser bis zum Hals. Er hat zu lange gewartet.
Samstag, 17. August. Das Wasser drückt bei Thomas Herrlich 1,20 Meter hoch gegen seine Kellerei. Aber sein improvisierter Schutz hält stand. Sechstausend Kubikmeter Wasser fließen pro Sekunde am Weingut „Vincenz Richter“ vorbei. Dreitausend Kubikmeter ist das Höchste, was jemals gemessen wurde. Aber Messungen spielen keine Rolle mehr. Die Menschen sind auf sich gestellt. Sie spüren, dass sie sich nicht mehr auf Experten und Behörden verlassen können. Sie sind gezwungen, wieder ihren Instinkten zu vertrauen. Gezwungen, selbst Verantwortung zu übernehmen. Das Hochwasser verändert die Menschen.
Thomas Herrlich hat 48 Stunden nicht geschlafen. Er spürt keine Müdigkeit. Im Weingut Schabehorn steht das Wasser jetzt zwei Meter hoch am grünen Hoftor. Der Rosenstrauch ist unter Wasser. Gegen dreizehn Uhr fällt der Pegel. Hoffnung. Und Angst vor dem, was das weichende Wasser zurücklassen wird. Schlamm. Der Schlamm hat alles verändert. Der Schlamm lähmt die Menschen. Zunächst. Dann bringt er sie zusammen.
Montag, 19. August. Die Hochflut ist vorbei. Im Weingut Schabehorn ist das Wasser abgelaufen. Die Rosen sind von einer dicken Schlammschicht überzogen. Die Zerstörung ist jetzt sichtbar. Ein Chaos. Aber es geschehen Wunder. Fünfzig Leute kommen plötzlich spontan auf den Hof, um zu helfen. Viele kennen die Schabehorns nicht. Unbekannte Menschen schrubben und scheuern eine Woche lang. Auch die Stahltanks, die noch mit Wein gefüllt sind und die Flut unbeschadet überstanden haben. 1.800 Liter Wein werden im Chaos versehentlich abgelassen. Es ist erst der dritte Jahrgang, den Steffen Schabehorn in seinem neu gegründeten Weingut selbst ausgebaut hat. Ein entsetzlicher Verlust für den kleinen Familienbetrieb. Sie klagen nicht. Birka Schabehorn sagt etwas ganz anderes. Sie sagt: „Man glaubt nicht, dass man so geholfen bekommt.“ Nie hätte sie das für möglich gehalten. Sie lächelt verlegen.
Eine Woche später ist der Hof wieder ein Idyll. Äußerlich. Die Rosen blühen noch, aber ihre Blätter sind grau. Die Schabehorns haben Tag und Nacht geschrubbt und aufgeräumt. Haben sich in Aktionismus und Aufräumwut geflüchtet. Aber nach einer Woche ahnen sie langsam, dass sich nicht alle Spuren beseitigen lassen. Sie spüren, dass die Flut auch sie selbst verändert hat. Hinter dem Rosenstrauch lag früher die Wohnung der Schabehorns. Jetzt gibt es keine Wohnung mehr. Das Wasser hat dort bis an die Decke gestanden, vier Tage lang. Im Haus riecht es nach Fäulnis. Die Wände sind nackt und nass. Nur an einer Wand hängt noch eine Figur aus Holz: ein Bacchus. „Den haben wir nicht mehr retten können“, sage Birka Schabehorn. Aber der Weingott hat die Flut gut überstanden. Im ganzen Haus liegen Schläuche, schlängeln sich in den Keller. Grünes Wasser steht dort einen halben Meter hoch. Die Pumpe läuft seit einer Woche, aber das Grundwasser drückt immer neues Wasser nach.
In dieser Zeit kommen ständig Touristen vorbei. Nicht um Wein zu kaufen, sondern um zu fotografieren. Sie laufen durch die zerstörte Wohnung der Schabehorns, und Birka Schabehorn hat irgendwann keine Kraft mehr sich dagegen zu verwahren. Wenn sie dann noch gefragt wird, warum sie nicht schneller auf die Flut reagiert habe, antwortet sie nur: „Wir konnten es uns nicht vorstellen.“ Das war das Problem.
Vor dem Hoftor der Schabehorns begann damals eine Mondlandschaft. Dort, wo das Hochwasser war, schien alles leblos. Aber schon drei Wochen nach der Flut drückte Grün durch den Schlamm. Zartes Grün. Der Frühling kam im September. Mit jedem Tag wirkte der Schlamm weniger leblos. Die Natur ist stark. Wie stark, das haben die Menschen jetzt hier erfahren. Sie werden respektvoller mit ihr umgehen müssen.
TILL DAVID EHRLICH ist freier Journalist und Degustator, er lebt in Berlin
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