: Kollektive Verunsicherung
Verboten oder erwünscht: Der Israeli Yehuda Almagor und der Deutsche Frank Soehnle verführen in „Kinder der Bestie“ zum Gelächter über Holocaust-Traumata. Geistreiche Inszenierung mit Menschen und Puppen im Malersaal
Dies ist kein Regietheater. Auch kein multimediales; gestalterische Revolutionen bleiben aus. Und doch verflicht Kinder der Bestie, vom Teatron Theater und dem figuren theater tübingen im Malersaal gespielt, Form und Inhalt gekonnt und schafft einen radikalen Tabubruch, ohne aggressiv, ideologisch oder belehrend zu wirken.
Wie sie das machen, der Puppenspieler Frank Soehnle und der israelische Schauspieler Yehuda Almagor? Sie werfen den Topos „Holocaustbewältigung der zweiten israelischen Nachkommengeneration“ in ein bundesdeutsches Publikumund verunsichern zutiefst. Denn wie soll man reagieren, wenn der jüdische, seit zehn Jahren in Deutschland lebende Schauspieler Almagor in humorigem Ton von jüdischen Shoah-Traumata erzählt? Wenn er, süffisant Zeitgenossen markierend, sagt „Ich schaffe es, von jedem Thema auf den Holocaust zu kommen“? Wenn er – und Almagor tut das unbekümmert – klischeehaft jüdischen Erzählduktus nutzt, um das grausamste Kapitel deutsch-jüdischer Geschichte zu bearbeiten? Soll man perplex sein oder lachen? Und wie reagieren, wenn der Enkel eines KZ-Überlebenden Katzen und Raben züchtet, damit sich die „Nazibestie“ zeigt, nur weil Mutter gesagt hat, die könne aus jedem Tier hervorbrechen?
Nur vordergründig naiv begibt sich der neunjährige Momik auf die Suche nach der Geschichte seines Großvaters, der nur Worte wie „Nazi kaputt“ von sich gibt. Hilfloses Aktenstudium betreibt derselbe Momik als erwachsener Autor, um schließlich doch im Kreise zu laufen, weil sich das Ungesagte nicht rekonstruieren lässt. Fast verzweifelt ist in der Parallelhandlung der kleine Momik, als die Bestie einfach nicht erscheint.
Von Notwendigkeit und Unmöglichkeit des Erzählens handelt die teils sehr poetische Inszenierung, in der etwa der Großvater dem Nazi-Lagerkommandanten die Paula-Fried-Geschichte erzählt, die noch als Greise Eltern werden; die zugehörigen Puppen werden jeweils adhoc aus Stoff geformt.
Und in – auf des Erzählers Kopf und Körper projizierte – hebräische Buchstaben ist die Geschichte getaucht, die in Scheherazade-Welt und Utopie entführt und dem Kommandanten Grenzüberschreitungen zeigen soll. Ob ihn dies berührt – niemand weiß es. Eindimensional gezeichnet wird der Nazi trotzdem nicht: Im Grunde ist er, wenn man Almagor erzählen hört, ganz sympathisch, als er naiv vom historisch notwendigen Überleben der Nazis faselt.
Geschicktes Ebenenverweben betreibt das Ensemble während all dieser Episoden; wichtigstes Requisit bleibt eine kleine Kiste – ein Sarg? –, aus der immer wieder der Großvater hervortaucht, um einen Augenschlag lang berühr- und identifizierbar zu bleiben. Greift man nach ihm, verschwindet er: im Schatten, im Bühnenhimmel, im Schweigen.
Und so bleibt für Momik eine Lücke in der familiären oral history, die jedes zukunftsgerichtete Denken behindert, weil der Protagonist gefangen bleibt in immer gleichen Fragen: Was ist die „Nazibestie“? In wem kann sie nisten? Und wie wäre – Momiks größtes Anliegen – endlich die elterliche Paranoia zu lösen? Wie lauten sie wirklich, die Lager-Geschichten, die er vor Verzweiflung erfindet und spielt. Und genau dieses Bild – der auf der Kiste sitzende, eine imaginäre Lager-Situation nachspielende Erzähler – offenbart die Hilflosigkeit einer jungen israelischen Generation, die sich dem nie Erlebten anzunähern versucht, ohne das Wissens- und Leidensmonopol der Erlebnisgeneration brechen zu können.
PETRA SCHELLEN
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