: Glaubensfrage
Versichern statt strafen: Henning Schmidt-Semisch hat einen neuen Vorschlag, mit Verbrechen umzugehen
„Kriminalität ist normal“, postulierte der Soziologe Emile Durkheim schon vor mehr als 100 Jahren und die Kriminalstatistik gibt ihm Recht. Jahr für Jahr weist sie rund 1,4 Millionen Diebstähle aus, 700.000 Sachbeschädigungen und 400.000 Körperverletzungen – fast wie in einer Planwirtschaft.
Aus dieser Beobachtung hat der Bremer Kriminologe Henning Schmidt-Semisch jetzt einen ungewöhnlichen Reformvorschlag entwickelt. In seinem Buch „Kriminalität als Risiko“ schlägt er eine Pflichtversicherung gegen die quasi schicksalshaften Kriminalitätsschäden vor. Jede Privatperson soll demnach einkommensabhängige Beiträge bezahlen und ist dafür gegen alle Schäden aus Straftaten versichert. Bisher ist die Hilfe für Kriminalitätsopfer eher lückenhaft. Eine umfassende Versicherung gegen Kriminalitätsschäden wäre so gesehen auf jeden Fall eine Verbesserung.
Doch Schmidt-Semisch geht es um mehr. Mit seinem Vorschlag will er zugleich die strafrechtskritische Kriminalpolitik „neu beleben“. Der Staat soll sich um die Opfer kümmern und die Täter möglichst in Ruhe lassen. Als so genannter Abolitionist lehnt Schmidt-Semisch die staatliche Bestrafung von Menschen grundsätzlich ab, weil dabei nur zusätzliches Leid erzeugt werde. Allein bei gefährlichen Gewaltverbrechern akzeptiert er eine Sicherungsverwahrung.
Nun ist die Forderung nach Abschaffung des Strafrechts nicht neu und die Einwände sind bekannt. Würde bei einem Verzicht auf Sanktionen nicht in Gegenden mit geringer sozialer Kontrolle die Kriminalität stark ansteigen? Oder würde es gar zu einer Welle privater Selbstjustiz kommen? Letztlich handelt es sich um eine Glaubensfrage, denn Modellversuche sind wenig wahrscheinlich. Zu begrüßen ist aber, dass Schmidt-Semisch – anders als viele Strafrechtsgegner vor ihm – den Opfern nicht die Hauptlast bei der Aufarbeitung von Konflikten auferlegt. Nach seiner Konzeption bekommen die Leidtragenden Geld und Hilfe von der Versicherung und müssen sich nicht weiter um die Täter bemühen.
Ist aber Schmidt-Semischs Alternative – Versicherung oder Strafrecht – überhaupt zwingend? Die Forderung nach einer umfassenden Versicherung gegen Kriminalitätsschäden könnte schließlich auch heute schon umgesetzt werden. Und gerade dieses realpolitische Potenzial hat es wohl ermöglicht, dass Schmidt-Semischs radikale und theoriebeladene Studie ausgerechnet im versicherungsnahen Gerling Akademie Verlag erscheinen konnte.
Allerdings brächte eine kriminalpolitische Orientierung am Versicherungsgedanken auch Risiken mit sich, die der Autor nicht verschweigt. So könnten Versicherungen von ihren Kunden verstärkten Selbstschutz und größere Vorsicht einfordern. Und wer dennoch Opfer einer Straftat wird, müsste sich nach seinem Mitverschulden fragen lassen – für die Opfer eine eher demütigende Perspektive.
Weitere Folge könnte eine zunehmende „Ghettoisierung von oben“ sein, so Schmidt-Semisch. Auf Druck der Kriminalitätsversicherungen würden dann unerwünschte Personen noch mehr als heute aus den Erwerbs-, Konsum- und Freizeitzentren ausgeschlossen, um mögliche Kriminalitätsrisiken bereits im Ansatz zu verhindern.
Insofern findet sogar Schmidt-Semisch selbst seine Idee ziemlich „ambivalent“. Nimmt man die von ihm selbst vorgetragenen Bedenken ernst, droht sogar eine Verschlechterung der Situation – sowohl für die Opfer wie auch für Personen, die als potenzielle Straftäter angesehen werden. CHRISTIAN RATH
Henning Schmidt-Semisch: „Kriminalität als Risiko“. 284 Seiten, Gerling Akademie Verlag, München 2002, 27,60 €
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