: Tayyip ist ehrlich und elastisch
von JÜRGEN GOTTSCHLICH
Gegen 13 Uhr herrscht eine gespannte Ruhe. Auf dem staubigen Platz am Rand der zentralanatolischen Stadt Nevsehir stehen tausende Menschen, dicht gedrängt, aber säuberlich getrennt zwischen Männern und Frauen. Obwohl sich auf der Bühne an der Stirnseite des Platzes seit geraumer Zeit nichts mehr tut, rührt sich kaum jemand aus der Menge. Nach einer Stunde plärrender Popmusik und einer weiteren Stunde in lähmender Ruhe, starren die Leute immer noch gespannt auf die Bühne. Dann endlich bewegt sich etwas, beginnen Polizisten zu rennen, stürzen sich Kameramänner im Pulk hinter die Bühne. Tayyip kommt.
Kenan Akdeniz hat das Warten nichts ausgemacht. Der alte Mann mit den tiefen Furchen im Gesicht ist bereits am frühen Morgen aus einem 30 Kilometer entfernten Dorf in die Stadt gekommen, um endlich den Mann leibhaftig zu erleben, von dem er sich so viel für sich, vor allem aber für die Zukunft seiner Kinder und Enkel verspricht. Bisher kennt er ihn nur aus dem Fernsehen. Doch Kenan Akdeniz ist sich sicher: Tayyip Erdogan, Boss der konservativ-islamischen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei, kurz AK Parti, ist ein ehrlicher Mann.
Darauf haben sie in seinem Dorf lange gewartet, auf einen ehrlichen Mann. Seit Jahren brachte das Fernsehen Nachrichten über Bestechung, Zank und Streit in der Hauptstadt Ankara. Schon lange hat man im Teehaus nur noch den Kopf geschüttelt, wenn es um die Politiker ging. Dann, vor anderthalb Jahren, platzte die Blase aus Korruption und Missmanagement, und über Nacht fanden die Leute sich in der größten Wirtschaftskrise seit Ende des Zweiten Weltkriegs wieder. Wie alle Bauern rund um Nevsehir baut auch Kenan Akdeniz auf seinen Feldern Kartoffeln an. Seit Beginn der Krise kann er seine Ernte kaum noch verkaufen. Gleichzeitig wurde für ihn alles teurer. Ob der Diesel für seinen Traktor oder das anspruchslose Essen auf seinem Tisch: Er weiß kaum, woher er die Lira dafür nehmen soll. Seine Hoffnungen ruhen auf dem Mann der nun, zwei Stunden später als angekündigt, die Bühne betritt.
Recep Tayyip Erdogan, 48 Jahre alt, seit gut einem Jahr Vorsitzender der neu gegründeten AK Parti, gehört zu den Politikern, bei denen jeder nur den Vornamen benutzt. Seine Gegner, um anzudeuten, dass er nichts anderes als ein mieser, kleiner Aufsteiger ist, und seine Anhänger, weil sie überzeugt sind, dass er auch im Erfolg einer von ihnen geblieben ist. Dabei hat der hoch gewachsene, immer etwas streng dreinschauende Tayyip Erdogan nichts Kumpelhaftes, ist alles andere als ein freundlicher Händeschütteler, sondern wirkt beim Bad in der Menge, als hätte er am liebsten fünf Meter Luftraum um sich.
Auch im Gespräch wirkt er hölzern und zurückhaltend. Das ändert sich allerdings, wenn Tayyip am Rednerpult steht. Einmal in Fahrt, kann er Säle zum Kochen bringen und rhetorische Feuerwerke abbrennen, die ihn bereits mehrfach in Schwierigkeiten gebracht haben. Ein besonders gelungener Auftritt vor ein paar Jahren in Siirt, im Osten des Landes, hat ihn schließlich politisch fast den Kopf gekostet. Weil er der Menge zurief, „die Minarette der Moscheen sind unsere Lanzen, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Armee“, wurde er wegen Volksverhetzung verurteilt und musste sein Amt als Oberbürgermeister Istanbuls niederlegen.
Heute hat Tayyip sich im Griff. Die Religion kommt in seiner gesamten Rede in Nevsehir nicht mehr vor, er spricht darüber, was Leute wie Kenan Akdeniz unmittelbar bedrückt. Die Dieselpreise, die Subvention für die Landwirtschaft, die Ankara auf Druck des Internationalen Währungsfonds gestrichen hat, die Korruption der politischen Klasse. „Als ich Oberbürgermeister von Istanbul war, haben wir nur durch die Eindämmung der Korruption zwei Milliarden Dollar im Jahr mehr in der Stadtkasse gehabt.“ Das ist seine Referenz im Wahlkampf, denn selbst seine politischen Gegner können nicht bestreiten, dass er in den Jahren, in denen er in Istanbul im Amt war, viel für die Stadt getan hat. Deshalb greifen sie ihn als Islamisten an. „Wenn ihr Tayyip wählt“, sagt sein einzig verbliebener ernsthafter Konkurrent Deniz Baykal von der sozialdemokratischen CHP, „dann droht ein neuer 28. Februar.“
Der 28. Februar ist das Synonym für die letzte Intervention des türkischen Militärs in die Politik, als sie 1996 den damaligen islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan aus dem Amt drängten. Seit Tayyip Erdogan nach vier Monaten im Gefängnis vor zwei Jahren wieder die politische Bühne betrat, betont er deshalb gefragt und ungefragt, er habe sich verändert, seine islamistische Phase sei vorbei und auch die AK Parti sei eine rechtsliberal-konservative Partei, in der die Religion lediglich noch Privatsache jedes Mitglieds sei.
Auch außenpolitisch hat Erdogan seine Partei von den islamischen Nachbarn weg und ganz nach Europa ausgerichtet. Fragt man ihn, ob er auch für einen Beitritt seines Landes in die Europäische Union ist, klingt die Antwort glaubwürdig. „Die Mitgliedschaft in der EU ist für die Türkei ein überparteiliches Ziel, das wir voll unterstützen“, sagt er. In der Zypernfrage, dem derzeit größten Stolperstein für die Türkei auf dem Weg nach Brüssel, gibt Erdogan sich flexibler als die amtierende Regierung. „Wir sind für das belgische Modell. Ein Staat, zwei gleichberechtigte Volksgruppen.“
Menschen, die ihn bereits aus seiner Kinderzeit kennen, nehmen ihm seinen Wandlungsprozess ab. „Elastisch, ja elastisch ist schon das richtige Wort. Tayyip ist ein elastischer Mann.“ Der grauhaarige Seemann Cevat Bey muss es wissen, denn er kennt ihn von klein auf. Intime Kenntnisse über den Mann, der sich gerade anschickt, mit seiner AK Parti die Wahlen am kommenden Sonntag haushoch zu gewinnen, sind im Kaffeehaus in Kasimpasa allerdings nichts Besonderes. Hier, im Istanbuler Armeleuteviertel direkt am Goldenen Horn, kennt fast jeder jeden und Tayyip Erdogan ist einer von hier. „Er ist“, versucht Cevat Bay sein Wort vom elastischen Menschen noch einmal zu erläutern, „ein moderner Mann. Er passt sich an, er ist nicht mehr radikal.“ Soll das etwa eine freundliche Umschreibung für blanken Opportunismus sein? Nein, ganz und gar nicht. „Tayyip“, da ist sich die ganze Runde im Kaffeehaus einig, „Tayyip ist ein ehrlicher Mann.“
Erdogans Weg von Kasimpasa bis ins Vorzimmer zur Macht führte wie bei vielen Kindern aus armem Haus durch die Moschee. Schon als Schüler war er in einem islamischen Jugendverband, nach der Grundschule schickte sein Vater ihn auf die religiöse Imam-Hatip-Schule, deren Absolventen in der Regel zu islamischen Geistlichen werden, während Tayyip in die Politik ging. Er wurde Gründungsmitglied der Wohlfahrtspartei, deren Chef Necmettin Erbakan, die Graue Eminenz des politischen Islams in der Türkei, zu seinem Mentor wurde. Als Protegé Erbakans legte Tayyip Erdogan eine steile Parteikarriere hin und war mit 30 Jahren bereits Parteichef von Istanbul.
Das politische Tandem Erbakan-Erdogan zerbrach, als der Alte sich von dem Jungen bedroht fühlte. Tayyips Popularität drohte den Führungsanspruch von Necmettin Erbakan in Frage zu stellen. Zu der persönlichen Konkurrenz kamen inhaltliche Differenzen. Erdogan und anderen jüngeren Kadern ging der islamistische Traditionalismus der Erbakan-Leute zunehmend gegen den Strich. Sie wollten aus der Türkei nie einen Gottesstaat machen, sondern endlich an der Macht im Lande beteiligt werden.
Das wollen ihm seine politischen Gegner nun mit allen Mitteln verwehren. Obwohl er sich mittlerweile offen zum säkularen Staat bekennt, darf er nicht fürs Parlament kandidieren. So entschied es ein Gericht mit Verweis auf seine Vorstrafe. Damit kann er selbst nach einem haushohen Sieg seiner AK Parti nicht Ministerpräsident werden. Sogar den Vorsitz seiner Partei solle er aufgeben, hat der Generalstaatsanwalt zehn Tage vor der Wahl gefordert, andernfalls will er die Partei verbieten lassen. Aber für Tayyip Erdogan und die Wähler der AK Parti ist es im Moment nicht so wichtig, wer unter Tayyip Ministerpräsident wird. Er bleibt der Star der Partei, weil die Leute ihm vertrauen. Denn wie kein anderer türkischer Politiker repräsentiert er die Biografie und gleichzeitig die Hoffnung des anatolischen Mannes: geboren in der Provinz, verwurzelt in einer religiösen Familie, als Kind in die Großstadt geschleppt, weil das Land die Familie nicht ernähren konnte, und dann den Aufstieg geschafft. Was Erdogan für so viele zum Erlöser macht, ist weniger der Islam als das Bekenntnis zu seiner Herkunft.
Obwohl mittlerweile drei seiner vier Kinder in Europa oder in den USA studieren, bleibt er für die Leute „einer von uns“, der als Befreier von der korrupten und abgehobenen politischen Klasse gefeiert wird. „Wenn Tayyip gewinnt“, schwärmt der alte Kenan Akdeniz nach dem Auftritt seines Idols mit Tränen in den Augen, „wird er den Korruptionssumpf trockenlegen.“ Aus dem Makel des Provinzialismus hat Erdogan seine stärkste Waffe gemacht. Die Parole ist einfach und auch in Deutschland wohl bekannt. Sie lautet schlicht: „Wir sind das Volk.“ Wer das als Drohung versteht, ist selber schuld.
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