Höchste Zeit für Gebete

Die christlich anmutende Rhetorik amerikanischer Politik hat seit dem 11. September 2001 glühende Konjunktur. Ein mentalitätsgeschichtlicher Rückblick

von MANUEL GOGOS

1985 trat eine Kraft in das Leben des George W. Bush, die den glücklosen Taugenichts der Familie wieder auf die richtigen Bahnen des Lebens lenkte: Billy Graham, Großmeister der Erweckungspredigt, saß mit Bush junior vor dem Kamin und redete ihm ins Gewissen: „Bist du auf dem richtigen Weg zu Gott?“, soll Graham den verlorenen Sohn gefragt haben. Und Bush bekannte: „Seine Worte trafen mich ins Herz. Gott, der Herr, sprach so klar aus ihm.“

Die Geschichte seiner persönlichen Bekehrung zu Jesus Christus, jener „Berufung“, die sein Leben „von Grund auf“ veränderte, hat Bush im Wahlkampf wieder und wieder öffentlich proklamiert. Die Christen der USA waren erregt: Outete sich da nicht einer von allerhöchster Warte als Hüter christlichen Glaubens als des wahren Fundaments der westlichen Welt? Ist dieser Mann nicht nahe daran, das Christentum wieder zur Staatsreligion zu erheben?

Bush entstammt der eher gemäßigten Methodistenkirche, für ihn aber wurde die Begegnung mit Graham prägend. Gleich nach seinem Amtsantritt vor zwei Jahren gründete Bush ein Komitee, das zu untersuchen hatte, wie religiöse Institutionen seitens des Staats unterstützt werden können. Bush hat von seinem Vater gelernt, dass „Atheisten keine Patrioten sein können, nicht einmal Bürger“. Deshalb ermuntert er die Baptisten Amerikas ausdrücklich, sich mit ihren Forderungen – gegen die sündhaften Industrien, für eine sakrosankte Heiligung der Familie – nicht aus der Politik herauszuhalten.

Seit durch diese Bush-Doktrin das religiöse Idiom popularisiert und, insbesondere seit dem 11. September, die prophetische Rhetorik im politischen Diskurs des Mainstreams etabliert wurde, vollzieht sich in den USA etwas, was dem europäischen Beobachter undenkbar schien: Inmitten der Nation der Pragmatiker entfaltet das Religiöse eine ungeahnte Kraft – in sämtliche Felder der Gesellschaft hinein.

Diese parallele Existenz von modernen Verfahrenstechniken und Glaubensüberzeugungen scheint dem Europäer bestenfalls in die islamischen Gesellschaften des Nahen Ostens zu gehören. Religion ist jedoch integraler Bestandteil amerikanischen Volksbegehrens, und damit spaßt man nicht. Die Buchstabentreue, was das Buch der Bücher angeht, macht die Spielarten des radikalen Protestantismus zu dem, was im Kontext des Islam freimütig Fundamentalismus genannt wird.

Tatsächlich stammt der Begriff „Fundamentalismus“ aus dem Amerika des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Er leitet sich von einer Erweckungsbewegung her, die sich wieder dem zuwenden wollte, was deren Stifter, C. L. Laws, als die unabdingbaren Prinzipien eines gottgefälligen Lebens ansah. Den Fundamentalisten ging es um die strenge Befolgung des Rituals und die Betonung dogmatischer Klarheit. In den Kreisen um charismatische Führer wie Billy Graham findet man hinsichtlich des christlichen Heilsanspruchs einen Exklusivitätsanspruch, wie er selbst im Umfeld des Heiligen Stuhls in Rom kaum zu finden ist.

Allein der Name Christi ist selig machend, in den Himmel führt kein Weg, es sei denn übers Kreuz. Weltanschaulich entspricht dem Fundamentalismus eine dualistische Grundstruktur, die klar zwischen dem Guten und dem Bösen unterscheidet, nicht selten in der Metaphorik von Licht und Finsternis. Die Bibel, so viel ist ihnen gewiss, hat alles über die Endstationen des Menschengeschlechts vorausgesagt und gibt in der heißen Phase der Endzeit unfehlbar Orientierung. Die Bibel nennt den Satan den „Herrn dieser Welt“, die Unbeugsamen müssen deshalb eine Wagenburg bauen. Zugleich muss von dieser letzten Bastion der heilige Zorn der Gerechten ausgehen, der der Verführungskraft des Widersachers trotzt: sanft und zugleich eisenhart.

Vorläufer der heutigen protestantischen Fundamentalisten sind die Wanderprediger, Adventisten, Methodisten und Baptisten, die Zeugen Jehovas und die Mormonen. In dieser Bewegung vereinigen sich frömmelnde, nationalistische und pazifistische Strömungen, auch Forderungen nach Todesstrafe und nach Vergebung in einem.

Eigentlich liegt in der Erweckungspredigt ein enormes nonkonformistisches Potenzial; sie hätte die Mittel, Stimme in der Wüste des Gewöhnlichen zu sein. Nicht zur Gewissensberuhigung der Saturierten wäre sie dann da, sondern ein Medium der Unruhestiftung, das im Namen einer höheren Wirklichkeit zu zivilem Ungehorsam aufruft. Aber statt innerweltliche Askese zu betreiben und sich als Sand im Getriebe des Kapitalismus zu betätigen, erwiesen sich viele christliche Hardliner als Praktiker des Kapitalismus.

Oft geht es in dieser rigoristischen Spielart des Konservativismus, die das weiße Gewand gegen die weiße Weste austauscht, mehr um Besitzstandswahrung als um moralische Erneuerung. Wie aber hat sich die Religionsfreiheit in Fundamentalismus, der Pazifismus der amerikanischen Gründungsväter in einen militanten Patriotismus transformieren können?

Ausschlaggebend für diesen Prozess war, dass Amerikaner in beide Weltkriege des vorigen Jahrhunderts hineingezogen wurden. Aus dieser Zeit der „Wiederbekehrung zur amerikanischen Nationalität“ stammt die Tendenz, sich aus innerkirchlichen Kreisen heraus zu einer konservativen Bewegung zusammenzuschließen, die mit Hilfe schlagkräftiger Institutionen politisch Einfluss zu nehmen versucht. Die evangelikalen Kirchen verstehen sich als Verteidiger von Demokratie und republikanischen Tugenden.

So erklärt sich, dass die Demokratie in den USA einer leidenschaftlichen Loyalität sicher sein kann. Amerikanern erscheint Demokratie als etwas Großartiges, Endgültiges, ja Heiliges. „I believe in democracy“, bekannte Präsident Dwight D. Eisenhower einst und gab damit ein Credo aus, das auch als patriotische Liebeserklärung zu verstehen war. Demokratie gilt in den USA als Ordnungsprinzip, für dessen innenpolitisches In-Kraft-Bleiben und außenpolitisches In-Kraft-Treten man größte Opfer zu bringen bereit ist.

In God we trust“ – „Wir vertrauen auf Gott“ – ist eine der Pathosformeln, die mehr vom Glauben an die eigene Sendung inspiriert scheinen als vom Glauben an Gott. Spätestens hier entpuppt sich der Fundamentalismus als politische Größe: Dieses religiös-nationale Sendungsbewusstsein, von Amerikas Hauptrolle in Gottes Heilsplan überzeugt, ist in den USA nichts Marginales. Dieser ursprünglich von der weißen Mittelschicht getragene Mythos gehört zu den wichtigsten Identität stiftenden Elementen einer Nation, die, weil ihre Angehörigen aus allen Ländern kamen (und kommen), erst eingeschworen werden musste, um Gefühle der Entwurzelung zu überwinden. In den Worten von Eisenhowers Außenminister John Foster Dulles: „Wir wurden in dem Glauben groß, dass die Vereinigten Staaten der Menschheit den Weg weisen zu einem besseren Leben. Diese Mission stand uns stets vor Augen. Weltmission war für uns ein Hauptthema.“

Dulles, ein kalter Krieger sondergleichen, scheute sich nicht, sich bei seiner Expansionspolitik auf die Rhetorik des Neuen Testaments zu berufen. Wobei er Jesus – das Subjekt des Bibelzitats – gegen das amerikanische Volk austauschte: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Ronald Reagan, mit dessen Wahl zum Präsidenten 1980 das rechtskonservative Lager auf dem Höhepunkt seiner Macht angekommen war, predigte die harte Linie: „Es gibt die Sünde und das Böse auf der Welt. Lasst uns für das Heil jener beten, die in totalitärer Dunkelheit leben – und sie werden die Freude entdecken, Gott kennen zu lernen.“

Immer wieder griffen US-Präsidenten in ihren Reden zu einer flammenden Rhetorik, die eigentlich der Kanzel entstammt. Selbst John F. Kennedy und Bill Clinton haben ihre Verbeugung vor der Sendungstradition machen müssen, um nicht in den Verdacht mangelnden Selbstbewusstseins zu geraten. In diese Tradition, die das Gebet zur Proklamation macht, gehört auch George W. Bush mit seinem Zungenreden von der „Achse des Bösen“: „Es gibt ein großes Werk zu tun – und wir müssen es tun, für das Wohl der Welt.“

Überzeugungen dieser Art sind in den rhetorischen Mustern des kollektiven amerikanischen Unbewussten tief verankert und können bei politischem Bedarf mobilisiert werden. Der Glaube, als universelles Modell eines Gemeinwesens an der Spitze der heilsgeschichtlichen Entwicklung zu stehen, gehört zum Common Sense der USA. Das „Gelobte Land“ Amerika wird als das neue Jerusalem reklamiert, das in einem „neuen Bund“ zu Gottes auserwähltem Volk avanciert.

Die Augen aller Welt sind darauf gerichtet: das World Trade Center als Leuchtturm – oder als Dorn im Auge. Wie überall ist in Amerika die religiöse Orientierung stark konjunkturabhängig. Seit dem 11. September, der als verspätetes Millenniumsereignis begriffen wird, herrscht in dieser Hinsicht satter Aufschwung. Obendrein spielt seitdem eine apokalyptische Symbolik in die Hände der amerikanischen Außenpolitik.

Persönliche Kontingenzängste und religiöse Versprechungen gehen seither Hand in Hand mit politischen Erlösungsmissionen. Heilsgeschichtliches wird in Weltpolitisches überführt. Die behauptete Gutherzigkeit dieser Expansionspolitik kaschiert die eigenen Interessen mit dem unvermeidlichen Willen des Göttlichen Ratschlusses: Weltmacht wider Willen, Unterwerfung als heilige Pflicht.

Nur so kann man innenpolitisch rechtfertigen, das Blut der eigenen Kinder für Foreign Affairs zu vergießen. Für die Europäer hat es etwas Beruhigendes, dass die US-Regierung die politische Entschlossenheit wie auch die militärischen Mittel besitzt, in deren Windschatten Europa seinen diplomatischen Pazifismus kultivieren kann.

Amerikas Konservative sollten noch einmal auf die Stimme seiner Ureinwohner hören. Die Navajoindianer wussten, dass Monokulturen für jeden Boden schädlich sind: „Wenn es nur noch eine Sprache gibt, wenn alle die Sprache des weißen Mannes sprechen, wenn es nur noch eine Meinung gibt und eine Sicht, gibt es kein Entrinnen mehr, ist das Ende der Zeit gekommen.“

MANUEL GOGOS, Jahrgang 1970, studierte in Bonn Philosophie, Germanistik und Vergleichende Religionswissenschaften. Er promoviert über jüdische Literatur der Gegenwart