ulrike herrmann über Non-Profit
: Der Tag, an dem die Stühle fehlten

Nizza ist schön. Die Sonne scheint, Obdachlose helfen einem, ein Hotelzimmer zu finden, und der Kanzler ist weit weg

Ich hatte mir geschworen, nicht ehrgeizig zu sein. Aber nun sitze ich da, starre meinen Lehrer an und will Pluspunkte sammeln. Ich bin einmal mehr in meine Pubertät zurückgekehrt, nur dass die Schule diesmal Bildungsurlaub heißt. Bisher erschien es mir eine gute Idee, zwei Wochen Französisch in Nizza zu lernen, aber dieses Experiment beginnt mit einem Einführungstext – und der steckt gerade in seiner oralen Phase fest.

Eben hatte ich noch erfolgreich formulieren können, dass ich „une journaliste“ sei und dass meine Zeitung „taz“ heißt. Aber dann fügte ich noch hinzu, „il est alternative“, was ich wohl besser gelassen hätte. Denn jetzt sieht er so gütig aus wie fast alle Lehrer, wenn sich endlich die Chance zum Vortrag bietet. „Alternative“, verstehe ich, bedeute auf Französisch nur „abwechselnd“. Ob ich vielleicht „de gauche“ meinte? Ist die taz links? Das würden wohl viele ihrer Leser bestreiten, aber ich nicke trotzdem, weil mir sonst nur noch ein französisch intoniertes „Äääh …“ eingefallen wäre.

Ob ich denn schon französische Korrespondenten in Berlin kennen gelernt hätte, fragt er als Nächstes.

„Oui … äh …, c’était le jour quand le …“ Was heißt bloß Kanzler auf Französisch? „Chancellaire“? Wahrscheinlich nicht. Ich gebe auf, obwohl ich gern erzählt hätte, wie es war, als drei französische Journalisten erschienen, um auch zu beobachten, wie Schröder und Fischer ihren Koalitionsvertrag unterschrieben. Rot und Grün hatten dazu in die Neue Nationalgalerie in Berlin eingeladen und hatten sogar eine riesige blaue Leinwand herbeigeschafft, die die Fernsehteams stets als Hintergrund verlangen. Doch was dieser symbolische Aufbruch in die klassische Moderne symbolisieren sollte, blieb zumindest den drei Franzosen unklar. Zumal das Entscheidende mal wieder fehlte: ausreichend Stühle für die Journalisten. Fassungslos beobachteten sie, wie ihre deutschen Kollegen zur Selbsthilfe griffen und meterlange Besucherbänke durch die lichte Glashalle wuchteten.

Und während der deutsche Regierungstross weiter auf sich warten ließ, moserten die drei, dass Rot-Grün genauso gut hätte ins Kanzleramt einladen können, denn dort müsse die Presse ja auch immer stehen. „Ce n’est pas poli“, was stimmt, die deutschen Politiker sind keine höflichen Gastgeber bei Pressekonferenzen.

Stattdessen sind sie aufdringlich, fanden die drei: Warum gibt Schröder jede Woche ein Interview, obwohl er doch nie etwas Interessantes mitzuteilen hat? Er würde in zwei Wochen so viele Pressekonferenzen abhalten wie sein französischer Exkollege Jospin in zwei Jahren!

Auch diesmal bestätigten sich die Prognosen der Franzosen grandios: Bei der Unterzeichnung des rot-grünen Koalitionsvertrages ereignete sich das große NICHTS. Alle Details waren vorher bekannt – selbst die Geschichte von der Spontanernennung Stolpes zum Verkehrsminister machte längst die Runde. Es blieb nur noch übrig, zu notieren, dass das rot-grüne Vertragswerk sinnigerweise auch rot-grün eingebunden war. Außerdem konnten die drei nach Frankreich melden, dass der Umschlag aus Plastik bestand und nicht aus einer umweltschonenden Biomasse.

Wo werde ich denn in Nizza wohnen?

Anscheinend hatte mein Lehrer inzwischen die Hoffnung aufgegeben, dass ich noch irgendetwas Berufliches auf Französisch zusammenstammeln konnte. Leider stellte er damit schon wieder eine dieser kompolizierten Fragen. Wie sollte ich jemals von Horst aus Chemnitz erzählen können? Ich traf ihn auf der Straße, denn nur dort kann man ihn treffen. Er ist obdachlos – und das mit Würde. Er verdient seine Almosen mit seinen beiden Katzen Ulbricht und Honecker – ein Witz, der in Nizza nicht verstanden wird. Die beiden Politbüromitglieder beherrschen zwar keine großen Kunststücke, aber sie können parallel auf seinen Armen herumturnen, wenn er es ihnen befiehlt.

Horst jedenfalls entdeckte meinen Rucksack und meinen suchenden Blick, und das sah verwandt genug aus, um mir einen Ratschlag zu erteilen. Er würde mir das Hotel „Chez …“ empfehlen. Die Frage war so offensichtlich und so peinlich, dass ich sie nicht stellen wollte: Woher er als Obdachloser denn wisse, wo man gut in Nizza bleiben kann? Aber er erahnte diesen Zweifel sowieso: „Wer da reingeht, kommt immer ohne Rucksack raus.“ Das klang logisch. Und so landete ich in einem Zimmer mit einer Malteserin, die immerzu weißliche Fische brät; mit einem Japaner, der ihn Australien lebt und am liebsten über die Kriegsgefahr aus Nordkorea räsonniert und mit einem Engländer, der demnächst Französisch an einer südamerikanischen Universität studieren will.

„Vous avez dite?“ Das ist wieder mein Lehrer. „Alors, äääh …“

Ratschläge zum Französischlernen? kolumne@taz.de