Geheimdienst schreibt mit

Das restriktive russische Pressegesetz wird nach dem Geiseldrama durch „Empfehlungen“ noch verschärft. Recherche nur noch mit „professioneller Beratung“ durch die Behörden zulässig

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Immerhin zweieinhalb Jahre hat sich Wladimir Putin Zeit gelassen, die Fundamente der jungen russischen Demokratie abzutragen. Mit der empfindlichen Verschärfung des Pressegesetzes, die die Duma letzte Woche in verdächtiger Eile verabschiedete, ist nun der letzte Stützpfeiler demontiert, der die Zugehörigkeit Moskaus zur demokratischen Welt rechtfertigte. Diese Woche reichte das Informationsministerium zusätzlich noch „Empfehlungen zur Berichterstattung in lebensgefährdenden Notsituationen“ nach, die als Ausführungsbestimmungen des Gesetzes zu verstehen sind.

Zur Erinnerung: Das neue Pressegesetz stellt unter Strafe, terroristische „Propaganda“ zu verbreiten und zur „Rechtfertigung“ terroristischer Anliegen beizutragen. Was der Gesetzgeber unter „Propaganda“, „Rechtfertigung“ und „Terror“ versteht, bleibt indes unklar. Beobachter fürchten, die schwammigen Formulierungen seien bewusst gewählt, um dem Kreml unbeschränkte Eingriffsmöglichkeiten gegen unbotmäßige Journalisten an die Hand zu geben. Da Moskau den Tschetschenienkrieg als Antiterroroperation bezeichnet, wäre es nicht verwunderlich, wenn die gesamte Berichterstattung über den Feldzug nun unterbunden würde.

Den Empfehlungskatalog hat das Ministerium zunächst einer Lobbyistengruppe aus Bossen der Medienindustrie vorgelegt, die die insgesamt sechzehn Verhaltensregeln begutachten soll. Das Vorgehen, ein nicht legitimiertes Gremium mit der Absegnung eines Verhaltenskodexes zu beauftragen, lässt aufhorchen. Anscheinend glauben Regierung und Kreml ihr Vorgehen gegen die Presse als einen Akt der freiwilligen Selbstbeschränkung darstellen zu können.

Harmlos formuliert

Gleichwohl sind nicht alle Regeln aus der Luft gegriffen. Berufsorganisationen in West wie Ost haben ähnliche ethische Prinzipien bei der Darstellung von Extremsituationen für ihre Mitglieder entwickelt. Doch die Brisanz des russischen Entwurfs besteht darin, dass es sich um ein Sammelsurium von Selbstverständlichkeiten handelt, in die geschickt harmlos formulierte Verbote eingeflochten sind.

So heißt es unter Punkt 4: „Journalisten dürfen Terroristen nicht auf eigene Initiative interviewen und ihnen keine Möglichkeit zu Live-Auftritten bieten, ohne vorher mit den für Sicherheitsfragen zuständigen Behörden gesprochen zu haben.“ Das läuft auf ein Verbot hinaus, über Motivationen und Anliegen von Attentätern zu berichten. Der Kreml wünscht auch, dass die Medien von Analysen „terroristischer Forderungen ohne professionelle Beratung“ absehen. Mit anderen Worten: Diese Berichterstattung übernehmen demnächst die Pressestellen der Ministerien, des Geheimdienstes FSB, der Armee und des militärischen Staatsanwaltes.

„Denke immer daran, dass das Leben wichtiger ist als das Recht der Öffentlichkeit auf Information“, heißt es unter Punkt 6. Man möchte dem ohne Wenn und Aber zustimmen, hätte man nicht hoch gestellte Beamte vor dem geistigen Auge, die sich vor Freude auf die Schenkel klopfen, dass die gutgläubigen Trottel aus dem Westen ihnen auch das noch abnehmen.

Der Versuch, Informationen aus und über die Sondereinsatztruppen zu erhalten, ist ebenfalls nicht mehr zulässig. Nach diesen „Empfehlungen“ hätte die Öffentlichkeit also nie etwas über den schädlichen Gaseinsatz, die stümperhafte ärztliche Versorgung und die Missachtung der Opfer und ihrer Angehörigen nach dem Geiseldrama im Moskauer Musicaltheater erfahren dürfen. Dieser Zynismus ist nur noch durch den folgenden Passus zu überbieten, in dem der Staat Journalisten anhält, „taktvoll und einfühlsam mit den Gefühlen von Verwandten und Partnern der Opfer des Terrorismus umzugehen“. Journalisten – nicht etwa die Behörden: Moskaus Zeitungen waren voll mit Berichten über deren haarsträubenden Umgang mit Hilfe suchenden Angehörigen. Viele wurden von der Polizei beschimpft, zehn Tage nach der Befreiungsaktion gelten Geiseln immer noch als vermisst.

Vor dem Hintergrund des Staatsterrorismus in Tschetschenien und anderen Regionen des Nordkaukasus sowie der Hatz auf Kaukasier in Moskau und anderswo überrascht auch die Mahnung unter Punkt 9 des Kodex: „Die internationale Gemeinschaft weist Rückschlüsse zwischen Terrorismus, Rasse, Religion und Nationalität zurück“. – Der Gipfel der Heuchelei ist erreicht.

„Wersija“ erschienen

Unterdessen erschien die Wochenzeitung Wersija, deren Zentralcomputer bereits am Wochenende vom Inlandsgeheimdienst FSB beschlagnahemt worden war, turnusgemäß am Montag. Wersija zufolge gibt es Hinweise „dass beim Sturm auf die Terroristen ein militärisches Nervengas auf Phosphorbasis angewendet wurde“. Durch schnelle Verabreichung eines Gegenmittels hätte sich dieses Phosphor-Kampfgas neutralisieren lassen, berichtet die Zeitung. Außerdem behauptet das Blatt unter Berufung auf Quellen im russischen Gesundheitsministerium, es seien nicht 120, sondern 300 Geiseln bei der Rettungsaktion umgekommen. Das offizielle Moskau hat zu den Anschuldigungen keine Stellung bezogen. Überhaupt überrascht, dass das Blatt erscheinen konnte. Chefredakteur Rustam Arifdschanow erklärte, man habe die Ausgabe vor Abtransport des Computers noch kopieren können.