Warten auf das Gruppenfoto

Gewöhnliche Chinesen reagieren auf die Fragenach der Parteiführungmit Gleichgültigkeit

von SVEN HANSEN

Lange Zeit hat es nach einem erstmals geordneten Wechsel an der Spitze der größten Partei der Welt ausgesehen. Er sollte wenig Überraschungen bieten und von der Reife der Partei zeugen. Doch dann überschlugen sich in den letzten Monaten die Gerüchte, genährt durch Indizien, die auf einen Machtkampf hinter den Kulissen deuteten.

Wenn jetzt am Freitag in Pekings Großer Halle des Volkes der 16. Parteikongress der chinesischen Kommunisten beginnt, ist immer noch nicht sicher, ob Parteichef Jiang Zemin am Ende des mindestens einwöchigen Treffens tatsächlich die Macht an seinen designierten Nachfolger Hu Jintao abgibt. Dabei werden beim Kongress für gewöhnlich die wichtigen Entscheidungen schon vorher im Verborgenen ausgehandelt.

Den designierten Parteichef Hu hatte schon vor zehn Jahren der Wirtschaftsreformer Deng Xiaoping ausgewählt. Der hatte auch schon Jiang in die höchsten Ämter von Partei und Staat geholt. Nachdem Deng 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Studentendemonstrationen gewaltsam beendet hatte, bemühte sich Jiang um die Konsolidierung der Macht der KP. Er setzte die von Deng eingeleiteten Wirtschaftsreformen fort, steuerte China in die WTO und suchte ein entspannteres Verhältnis zu den USA. Der jetzige Parteitag ist auch wichtig, weil bis zu sechs der sieben Plätze im Ständigen Ausschuss des Politbüros neu zu besetzen sind. Jiang Zemin, Li Peng und Zhu Rongji, die Chinas Geschicke seit Jahren lenken, sind jetzt mit 76, 73 und 74 in einem Alter, in dem sie nach einer informellen Regel nicht wieder kandidieren dürfen. Damit ist der Generationswechsel eigentlich unvermeidlich.

Doch als im Frühjahr eine große Propagandakampagne für den Parteichef begann, werteten Beobachter dies als Versuch Jiangs, doch noch an seinen Ämtern festzuhalten. Zumindest sah es so aus, als schaffe er sich Verhandlungsspielraum, um seinen Einfluss zu sichern. Hierzu zählt auch die Vermutung, dass Jiang, wie schon zuvor Deng Xiaoping und Mao Tse-tung, vorerst den Vorsitz der Militärkommission nicht aufgeben wird. Damit behielte er in wichtigen Fragen eine Art Vetorecht.

Andere sahen in der Propagandakampagne auch einen Versuch von Provinzführern, Militärs und Beamten, sich gegen den befürchteten Verlust von Pfründen zu wehren, sollte es zum Wechsel kommen. Die beiden US-Chinawissenschaftler Andrew J. Nathan und Bruce Gilley halten derlei Spekulationen allerdings für falsch. Ihrer Meinung nach sollte Jiang mit der Propaganda nur ein starker Abgang verschafft werden.

Nathan und Gilley begründen ihre Einschätzung mit internen KP-Papieren, die sie im Sommer bei einem hohen Kader einsehen konnten. Nathan waren zuvor schon die „Tiananmen-Akten“ über die internen Diskussionen der Parteiführer während der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 zugespielt worden. Jetzt kamen Nathan und Gilley auf Basis der Dokumente zu dem Schluss, dass der Machtwechsel eher geordnet und wie geplant ablaufen werde. Ihrer Meinung nach stehen die von der bisherigen Führung ausgehandelten neuen Mitglieder des Ständigen Ausschusses bis auf einen seit fast einem Jahr fest.

Gegen diese Vermutung spricht, dass die jährliche Sommerklausur der Parteiführung im Badeort Beidahe ungewöhnlich lange verlief. Es drangen keine Ergebnisse an die Öffentlichkeit, während Gerüchten zufolge hart um Posten gerungen wurde. Auch wurde als Grund für die Verschiebung des Parteikongresses auf November nicht nur Jiangs USA-Reise im Oktober gewertet, die er noch mit allen Ämtern absolvieren sollte, sondern auch der anhaltende Kampf um die Posten.

Der Journalist Willi Wo-Lap Lam, der seit Jahren für Hongkonger Medien und jetzt für CNN aus Peking über Parteiinterna berichtet, meldete am Dienstag unter Berufung auf Parteikreise, dass die Zusammensetzung des neuen Ständigen Ausschusses erst zwei Tage vor Jiangs USA-Reise im Oktober entschieden worden sei. Laut Lam gehen jetzt vier der sieben Posten an Vertraute Jiangs.

Da es in Chinas KP heute, anders als in den Achtzigerjahren, keine nennenswerten politischen Lager mehr gibt, ist es letztlich zweitrangig, welche Personen dem höchsten Machtzirkel angehören. Die große Mehrheit der Partei steht hinter dem kapitalistischen Wirtschaftsreformkurs, und alle Kandidaten gelten als qualifiziert. Somit geht es bei den Machtkämpfen eher um persönlichen Einfluss als um politische Differenzen. Die Politiker mögen sich im Stil unterscheiden, doch hat China heute eine kollektive Führung.

Die große Mehrheitder Partei steht hinterdem kapitalistischen Wirtschaftsreformkurs

Die muss die Staatsbetriebe und den Finanzsektor weiter reformieren, die Stabilität wahren und das hohe Wirtschaftswachstum beibehalten. „Die politische, soziale und wirtschaftliche Agenda wird heute eher für die chinesischen Führer geschrieben als von ihnen“, meint denn auch der in Hongkong lebende britische China-Consultant Richard Margolis. Gewöhnliche Chinesen reagieren ohnehin auf die Fragen nach ihren bevorzugten Kandidaten meist mit Gleichgültigkeit, da es für sie keine Alternativen gibt.

Neben Jiang Zemins Rechenschaftsbericht und der Ernennung der künftigen Führung, die offiziell erst am letzten Tag erfolgt, steht im Mittelpunkt des Parteitages die Überarbeitung des Parteistatuts. Darin will Jiang sich mit seiner eigenen Theorie verewigen, die in einem Atemzug mit denen Maos und Dengs genannt werden soll. Mit seinen „Drei Vertretungen“ will Jiang Zemin die Kommunistische Partei für Unternehmer öffnen und damit die Ära der Arbeiter-und-Bauern-Partei endgültig begraben. Bisher durften Privatunternehmer keine Parteimitglieder sein, was in der Praxis aber schon seit langem unterlaufen wird. Denn nicht wenige Unternehmer fingen als Staatskader an.

Jiangs Schritt ist nicht unumstritten, da die Verbindung von Unternehmern und Kadern mit Korruption verbunden wird. Manche fürchten jetzt eine Korrumpierung der ganzen Partei. Dennoch zweifelt niemand, dass die Reform angenommen wird. Die Partei verspricht sich davon eine Einbindung der neuen Elite und einen Zugang zu deren Ressourcen. Für die Unternehmer bedeutet die Parteimitgliedschaft Kontakte zu Entscheidungsträgern und einen für die Geschäfte positiven Einfluss. Die KP setzt auf die Privatwirtschaft, die zuletzt die meisten Arbeitsplätze geschaffen hat. Während die Staatsbetriebe seit 1998 26 Millionen Arbeiter entließen, steigerten allein die 500 größten Privatunternehmen die Zahl ihrer Beschäftigten 2001 um 46 Prozent. Inzwischen arbeiten 54 Millionen Menschen in der Privatwirtschaft. Bereits beim jetzigen Kongress wird mit der Aufnahme einiger Unternehmer ins Zentralkomitee gerechnet.

Die endgültige Zusammensetzung des Ständigen Ausschusses wird erst bekannt, wenn dessen Mitglieder am Tag nach dem Kongress traditionell in der Folge ihres Ranges die Große Halle des Volkes betreten und sich den Fotografen stellen. Ein chinesischer Gorbatschow dürfte nicht darunter sein. Wer immer das Machtmonopol der Kommunistischen Partei beenden wollte, würde nie den Auswahlprozess überstehen. Dieser fördert keine Politiker mit mutigen Visionen, sondern vorsichtige Technokraten wie Hu. Er hat auch zehn Jahre nach seiner Ernennung zum Kronprinzen bei den meisten Chinesen keinen Eindruck hinterlassen. Dennoch darf man gespannt sein, wie er mit der Frage politischer Reformen umgehen wird, die sich mit weiterer Wirtschaftsliberalisierung verschärft stellen wird.

Im Vorfeld des morgen beginnenden Parteitags der KP Chinas berichtete die taz in den letzten drei Wochen über die Lage der Arbeiter (17. 10.), der Bauern (24. 10.) und der Unternehmer (31. 10.).