: Die Stadt aus dem Schlaf wecken
Castor-Protest: Warmlaufen auf beiden Seiten. Die Strategie: Keine Ruhe mehr für die „Schreibtischtäter“, AtomgegnerInnen wollen der Bevölkerung klar machen, „was da durch ihre Stadt rollt“: Lüneburg ist ein neuer Aktionsschwerpunkt
von HEIKE DIERBACH
Der Ausnahmezustand beginnt an der Anschlussstelle Lüneburg-Nord. Kolonnen grüner Transporter verstopfen die Einfallstraße. Auf der Heckablage sieht man die weißen Helme, aus einem der Busse kläffen Hunde. Bei einem anderen haben die Beamten die Heckscheibe mit einer blau-weiß karierten Bayernfahne verhängt: Der Staat ballt seine Kräfte, um den sechsten Transport radioaktiven Mülls ins Zwischenlager Gorleben durchzusetzen. Die sich dagegen stellen, kommen ebenfalls aus dem ganzen Bundesgebiet. Gestern liefen sich beide Seiten warm.
Ein neuer Schwerpunkt der Proteste ist in diesem Jahr Lüneburg. „Zum einen wollen wir ganz praktisch versuchen, den Castor hier schon zu stoppen“, erklärt Udo Hergenröder vom Aktionsbündnis „Heidewerkstatt“. Zum anderen sei Lüneburg aber auch das logistische Zentrum der Transporte: „Hier sitzen die Einsatzzentrale der Polizei und die Bezirksregierung, die das Versammlungsverbot erlässt. Die sollen sich nicht mehr ruhig zurücklehnen können.“
Für 15 Uhr hat die Heidewerkstatt zu einem „Erkundungsspaziergang“ eingeladen. Rund 200 Menschen setzen sich vom Marktplatz in Richtung Bahnhof in Bewegung. Auf der Straße rollt ungehindert der Verkehr. Doch als die DemonstrantInnen in Richtung Bahnhof einbiegen, wird das Versammlungsverbot schlagartig sichtbar: Polizeiketten machen die Straße 50 Meter vor der Bahnstrecke dicht.
Die Demo dreht um und biegt in den Stadtring ein. Er verläuft parallel zur Bahnstrecke, die bis zur Brusthöhe mit Stacheldraht gesichert ist. Eine Rednerin weist per Megaphon auf eine Kaserne an der Straße hin: Hier wird die Lüneburger Gefangenensammelstelle sein. „Wir wollen zwar nicht hoffen, dass ihr hier jemanden abholen müsst, aber es ist sehr wahrscheinlich.“
Heute haben die „Konfliktmanager“ der Polizei jedoch noch nichts zu tun. Gleich sechs begleiten den Zug, „es ist ja sonst gerade nichts los in der Stadt“, erklärt der Beamte Gerd Stelke. Er war schon bei den vorigen Transporten dabei. Ob sein Einsatz damals etwas gebracht hat? „Doch, schon. Zum Beispiel werden die Beamten jetzt im Supermarkt normal bedient.“ Stelke hat seinerseits „vollstes Verständnis“, dass die Bevölkerung im Wendland Angst hat vor dem Atommüll vor ihrer Tür. Aber die Polizei „ist nun mal die Exekutive“.
Deshalb exekutiert sie nun erneut das Versammlungsverbot: Die DemonstrantInnen nähern sich der nächsten Bahnbrücke. In einer halben Minute sind Straße und angrenzende Gebüsche durch PolizistInnen abgeriegelt. Die DemonstrantInnen verhandeln noch, ob man nicht durch einen Polizeikorridor unter der Brücke hindurch könne. Aber die telefonisch kontaktierte Gesamteinsatzleitung lehnt ab. Die Demo macht kehrt.
Aktivistin Gerda S. geht es auch darum, die Lüneburger Bevölkerung für den Konflikt zu sensibilisieren, denn „diese Stadt schläft bisher.“ Während der letzten Transporte hätten die Leute ihren Alltag fortgesetzt, „als ginge es sie nichts an, was da mitten durch ihre Stadt rollt.“ In diesem Jahr kommen sie an dem Konflikt nicht vorbei: Jetzt haben die DemonstrantInnen die Kreuzung vor der Bezirksregierung dicht gemacht. An das Gebäude selbst kommen die Castor-GegnerInnen zwar nicht heran. „Aber immerhin müssen sich die Schreibtischtäter diesmal polizeilich schützen lassen“, freut sich Hergenröder.
Der Spaziergang wird offiziell beendet. Aber, so eine Sprecherin, „wir hoffen, euch bald wiederzutreffen zu Kaffee, Tee oder anderen Sachen.“ Auf die Bundesstraße, die ins Wendland führt, biegt die nächste Polizeikolonne ein.
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