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Risikogesellschaft China

Die spektakuläre Wende zum Kapitalismus wird mit Verteilungskämpfen verbunden sein. Um diese zu überstehen, braucht der neue KP-Chef Hu Jintao die Hilfe des Westens

Trotz ihrer altmodischen Ideologie wird die KP lange die prowestlichste Kraft in China bleiben

Ab heute regiert mit Hu Jintao ein politisch nicht vorbelasteter Parteichef in Peking, doch der Rest der Welt fragt spöttisch: Who is Hu? Merkwürdig distanziert, als sei eine Kongresswahl in den USA dieser Tage von weit größerer Bedeutung, reagiert die Weltöffentlichkeit auf die erste störungsfreie Wachablösung an der Spitze der Volksrepublik. Nirgendwo eine nennenswerte Debatte, die Hu Jintaos neue Rolle, ihre möglicherweise historische Bedeutung abwägt.

Von denen, die etwas zählen, ist mal wieder nur der alte Henry Kissinger zur richtigen Zeit am richtigen Ort in Peking gewesen. Kissinger sieht die Welt die gleichen historischen Fehler machen, die sie vor hundert Jahren verübte. Damals versäumten es die Europäer, den Vereinigten Staaten rechtzeitig ihren Platz als Global Player einzuräumen, und steuerten aus Blindheit für die wahren Kräfteverhältnisse auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs zu. Laut Kissinger wiederholt sich heute ein ähnliches Szenario in Bezug auf China: ein Land, das sich inzwischen zum Zugpferd der Weltwirtschaft gemausert habe, aber weltpolitisch nicht entsprechend ernst genommen werde.

Die chinesische Politik ernst zu nehmen fällt in der Tat nicht leicht. Hält man sich die Bilder der letzten Tage aus der chinesischen Hauptstadt vor Augen, scheint dort, wo das Land regiert wird – am Platz des Himmlischen Friedens in Peking –, die Zeit stillzustehen. In äußerer Form und Selbstdarstellung gegenüber früheren Spektakeln dieser Art nahezu unverändert, wirkte der 16. Parteitag der Kommunistischen Partei (KP) wie ein großer Wiederbelebungsakt für einen auch innerhalb Chinas längst totgesagten Kommunismus. Westlichen Beobachtern mag es vorkommen, als lebe in China die grausame Tradition der roten Regime uneingeschränkt fort. Denn noch immer redet ein Hu Jintao mit Worthülsen, die außerhalb der Partei niemand versteht. Noch immer gewinnt er seine Macht aus einem undurchsichtigen Staatsapparat, der nur einer Hand voll Mitgliedern des Politbüros gehorcht. Und noch immer rechtfertigt seine Partei diktatorische Methoden: die massive Anwendung der Todesstrafe, willkürliche Strafversetzungen in Umerziehungslager und die Unterdrückung von Streiks und Protesten.

Doch was wäre China heute, wenn Partei und Parteitag auch nur ein annäherend getreues Abbild der gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegelten? Einfarbig und monoton wäre das Stadtleben, Gehorsamkeit gegenüber den Älteren prägte das Zusammenleben der Menschen, ein jeder Bürger verneigte sich noch immer vor dem großen Steuermann Mao Tse-tung und seinen Vorgängern, den gelben Kaisern. Nichts von dem aber trifft mehr zu. Wäre Chinas Gesellschaft eine jahrtausendealte große Mauer – in diesen Jahren würde sie zerfallen.

Noch vor fünf Jahren waren im Herbst nach Einbruch der Dunkelheit die Straßen von Großstädten wie Peking und Schanghai leblos und entvölkert. Das Volk kannte nur Arbeit, die moderne Konsumgesellschaft existierte nicht. Heute gehen die Lichter die ganze Nacht nicht mehr aus. Wo jetzt Menschen sind, ist auch ein Markt, auf dem die Extravaganzen explodieren. Die beste Küche der Welt, Massagefreuden, Diskotanz und Sexarbeit werden dem Bürger in jedem Provinznest bis in die tiefe Nacht angeboten. Das nötige Kleingeld für die neuen Genüsse liefern Chip-, Elektro- und Textilfabriken, die landein, landaus wie Pilze aus dem Boden schießen. Derweil lassen abertausend 24-Stunden-Baustellen keinen Menschen in der Stadt mehr ruhig schlafen.

So verdecken die roten Fahnen, die über Peking wehen, nur notdürftig Chinas dramatische Wiedergeburt als führende Wirtschaftsmacht. Das Land ist auf dem besten Weg, zum billigsten und effizientesten Produktionsstandort für alles zu werden: vom einfachen Wegwerfspielzeug bis zum leistungsstärksten Computerchip. Schon bauen amerikanische Firmen ihre Fabriken in Mexiko und den Philippinen ab, um sie in China neu aufzubauen. Schon ist der Zeitpunkt vorstellbar, da Volkswagen mehr Autos in der Volksrepublik als in Deutschland herstellen lassen wird. Dort aber winkt ein schier unerschöpfliches Reservoir billigster Arbeitskräfte, die zunehmend besser ausgebildet sind. Eine Ingenieurstunde kostet heute in New York hundert Dollar und in Schanghai fünf – wobei die Ingenieursleistung nach Erfahrung vieler ausländischer Firmen oft nicht mehr schlechter ist. Kein Wunder also, wenn China derzeit mehr Direktinvestitionen aus dem Ausland anzieht als jedes andere Land.

Dennoch weiß niemand, wo die Entwicklung in China hinführt. So viel Unruhe herrscht in der Republik, dass selbst die traditionell trägen Bauernmassen erwachen. Neun Millionen Landbewohner verlassen jedes Jahr das Dorf, um in der Stadt ein neues Leben zu beginnen. Zu ihnen gesellen sich jährlich drei Millionen Studenten, vier Millionen jugendliche Schulabgänger und fünf Millionen Entlassene der alten Staatsbetriebe, die nach einem neuen Job suchen. Chinas spektakuläre Wende zum Kapitalismus ist also mit hohen sozialen Risiken verknüpft. Neue Verteilungskonflikte zwischen Arm und Reich stehen vor der Tür. Zumal es darum geht, mehr Menschen, als heute in den wohlhabenden Industrieländern insgesamt leben, an deren Entwicklungsstand heranzuführen. Werden deren Hoffnungen auf wachsenden Wohlstand eines Tages durch unvorhergesehene wirtschaftliche Rückschläge enttäuscht, kann dies wie in Deutschland und Japan in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Erstarken eines aggressiven Nationalismus führen. Denn die meisten Chinesen sind heute schon sehr stolz auf die Erfolge ihres Landes.

Als Hüter der chinesischen Risikogesellschaft aber haben die Kommunisten bisher ihre Stärken bewiesen. Ihre Führungskompetenz bis auf die unterste Gemeinde- und Dorfebene ermöglicht es bisher, die sozialen Konflikte in der Regel friedlich zu lösen – obwohl pro Jahr bereits mehr als hunderttausend Demonstrationen von Arbeitern und Bauern aus allen Landesteilen gemeldet werden. Zugleich haben die Kommunisten radikalen nationalistischen Tendenzen eine Absage erteilt und außenpolitisch eine deutliche Annäherung zum Westen vollzogen, bis hin zur Aufgabe aller Kritik an den USA in der Irakfrage.

Führt man sich die Bilder der letzten Tage vor Augen, scheint in Peking die Zeit stillzustehen

Hu Jintao will diese Politik fortsetzen. Doch er wird nur erfolgreich sein, wenn der Westen ihn als Partner begreift. Denn in jedem Fall werden die Chinesen ihr Urteil über die eigene Regierung an dem des Auslands messen – wie sie sich heute in allen wichtigen Fragen nach dem Geschmack des Auslandes richten. Gerade deshalb aber ist das westliche Desinteresse an der chinesischen Politik Besorgnis erregend. Trotz der ihr fehlenden demokratischen Legitimation, ihrer altmodischen Ideologie und einer menschenverachtenden Justiz wird die KP auf lange Zeit die fortschrittsorientierteste und damit prowestlichste politische Kraft in China bleiben.

GEORG BLUME

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