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Der Blick ins Jenseits

„Menschen werden religiös, weil sie verstehen, dass die Frage von Krieg letztendlich in Gottes Hand liegt“

aus Bagdad KARIM EL-GAWHARY

Einst war Bagdad bei konservativen Arabern als Sündenbabel verschrien. Auf der Abu-Nawaz-Straße, der Uferpromenade des Tigris, flanierten die irakischen Frauen in Miniröcken, während in überfüllten Fischrestaurants opulente Abendgelage mit Dattelschnaps und Arrak zelebriert wurden.

Kurzum: Die Bagdader Flaniermeile machte ihrem Namensgeber Abu Nawaz alle Ehre. Hatte es sich dieser arabische Dichter doch schon vor über tausend Jahren zur Lebensaufgabe gemacht, das Gefühl der Leichtfertigkeit und des Schwelgens bis hin zur Ausschweifung und Obszönität in poetische Zeilen zu fassen.

Anders als die erzkonservativen benachbarten Golfmonarchien und Emirate, die seit ihrer Staatswerdung die Scharia, das islamische Recht, als Verfassungsersatz betrachteten, galt das politische System der arabisch-nationalistischen Bath-Partei, die sich 1968 im Irak an die Macht geputscht hatte, als säkularstes Staatskonstrukt im ganzen Nahen Osten. In keinem anderen Land der Region waren die Angelegenheiten von Staat und Religion deutlicher getrennt als im Reich Saddam Husseins.

Heute wirkt die Abu-Nawaz-Straße wie ausgestorben. Alkohol wird bereits seit Mitte der 90er-Jahre in keinem irakischen Restaurant mehr ausgeschenkt. Die wenigen Frauen, die hier noch entlangspazieren, verhüllen sich oft entweder mit einer Abaya, dem traditionellen schwarzen Umhang, oder haben zumindest ein Kopftuch auf. Acht Jahre Iran-Irak-Krieg im vorletzten Jahrzehnt, dann 1991 die Operation Desert Storm und die folgenden Jahre der UN-Sanktionen haben die Menschen zurück in die Moscheen getrieben. Und auch die Kirchen der christlichen Minderheit, die weniger als drei Prozent der Bevölkerung ausmacht, sind voller denn je. Wie der Dominikanerpriester Vater Yussuf in seinem Bagdader Konvent die gleiche Reaktion aller irakischen Religionsgemeinschaften erklärt: „Sanktionen sind wie Regen. Wenn es regnet, dann für alle.“ Islamische Rechtsgelehrte und christliche Priester sind sich einig: „Die Menschen werden wieder religiös, weil sie in der Krise verstehen, dass die Frage von Sanktionen und Krieg letztendlich in Gottes Hand liegt“, beschreibt Sayyed Ahmad al-Gailani, Verwalter einer islamischen religiösen Sufi-Stiftung im Zentrum der irakischen Hauptstadt, die Stimmung. Die Menschen, sagt er, seien vom Westen enttäuscht und kehrten deshalb zu ihren Wurzeln zurück.

Ein irakischer Freund, der persönlich immer noch an der säkularen Tradition festhält, erklärt, dass die Menschen unter ihren miserablen Lebensumständen und ohne jegliche Zukunftsperspektive sich immer mehr vom Diesseits ab und dem Jenseits zuwenden. Nicht nur Kirchen und Moscheen sind besser besucht denn je, auch der Schicksalsglaube habe zugenommen. Hand- und Kaffeesatzleserinnen haben Hochkonjunktur. Wer krank ist, geht immer öfter statt zum Arzt zum islamischen Wunderheiler, und wer bestohlen wurde, wendet sich an den Scheich in der Nachbarschaft, um den Dieb auf metaphysische Weise zu stellen.

Auch das einst säkulare Regime leistet dem Trend eifrig Vorschub. Während des Golfkriegs ließ Saddam Hussein „Gott ist groß“ auf die Nationalflagge nähen, ein paar Jahre darauf verkündete er die so genannte Hamla al-Iman, die Glaubenskampagne. Der Koranunterricht wurde in allen Schulen als Pflichtfach eingeführt, und das staatliche Fernsehen strahlt täglich Programme aus, in denen sich Scheichs mit Fragen des Glaubens auseinander setzen. Immer häufiger sind auch Poster des Präsidenten zu sehen, wie er ehrerbietig in der Moschee zum Gebet niederkniet.

Das Regime agiert nach dem Motto: „Was ich nicht kontrollieren kann, mache ich mir zu Eigen“ – und das inzwischen bis zum Exzess. Im Moment lässt Saddam Hussein am alten Flughafen Bagdads, von weitem sichtbar, an der größten Moschee des Nahen Ostens bauen. Ein anderes Megagotteshaus, die so genannte „Mutter aller Schlachten“-Moschee, wurde vor kurzem fertig gestellt. Außen prangen acht Minarette – für jedes Jahr des Iran-Irak-Kriegs eines – in Form von Scud-Raketen. Drinnen, heißt es, liegt ein Koran, geschrieben mit dem Blut des Präsidenten. Manche staatlichen Berichte behaupten, Saddam habe dafür 20 Liter seines Lebenssaftes gespendet.

Ein Iraker, der lieber anonym bleiben möchte, erklärt den religiösen Bauboom des Präsidenten mit dessen Drang nach Ewigkeit. Seine Paläste könnten nach seinem Tod zerstört werden, aber eine Moschee darf keiner nederreißen. Damit habe er sich einen Platz in der Baugeschichte des Zweistromlandes gesichert, zumal er jeden einzelnen zum Bau dieser Moschee verwendeten Ziegelstein mit seinen Insignien S. H. habe versehen lassen.

Unterdessen arbeiten seine Minister und Parteifreunde daran, ihr religiöses Image aufzubessern. Das fängt an mit ideologischen Renovierungsarbeiten beim Begründer jener Ideologie, die den Machthabern des Iraks seit Ende der 60er-Jahre als Überbau dient. Nach offizieller irakischer Geschichtsschreibung soll der christliche Gründer der regierenden nationalistischen Bath-Partei, Michel Aflaq, der zu Lebzeiten kaum an religiösen Belangen interessiert war, kurz vor seinem Tode zum Islam übergetreten sein. Doch damit nicht genug. Ezzat Ibrahim, der stellvertretende Vorsitzende des revolutionären Kommandorats, verkündete im Oktober nach der 100-prozentigen Wiederwahl Saddam Husseins gar, dass der Präsident in direkter Linie von der Familie des Propheten Mohammed abstamme. Die Medien tun ein Übriges, dieses Bild auszuschmücken. Ähnlich wie in religiösen Schriftstücken der Name des Propheten Mohammed immer mit dem Zusatz „Frieden sei mit ihm“ versehen wird, erscheint auch der Name Saddam Husseins in den Zeitungen stets gefolgt von einem „hafizu Allah wa ra’ahu“ – „möge Gott ihn erhalten“.

Aus dieser „Gott-Nation-Führer“- Kombination allerdings zu schließen, dass, wie gelegentlich aus Washington zu hören ist, das irakische Regime Kontakte zu militanten Fundamentalisten wie Bin Laden unterhalte, ist, wie es ein ausländischer Diplomat in Bagdad kurz fasst, „absoluter Blödsinn“. Auch wenn das irakische Regime die Religion für seine Zwecke instrumentalisiert, am Ende sind Saddam Hussein und Bin Laden vor allem eines: Konkurrenten im Kampf um die diesseitigen Seelen der Araber. Und nicht nur die meisten Angehörigen ausländischer Botschaften vor Ort, sondern auch die Iraker, auch jene, die dem Regime alles andere als wohl gesinnt sind, winken ab bei der „Saddam-Bin-Laden-These“.

Das ändert allerdings nichts daran, dass die irakische Gesellschaft nach einer kurzen Aufbruchsstimmung in den Siebzigerer- und Achtzigerjahren immer konservativer und traditioneller wird. Noch gibt es, anders als in manch anderen arabischen Ländern, irakische Künstler, die Aktbilder malen, und Menschen, die sich zu Hause den ein oder anderen Drink genehmigen. Aber der Trend verläuft entgegengesetzt. Ein UN-Beamter in Bagdad stellt dazu fest: „Am Ende nähert sich die irakische Gesellschaft möglicherweise ihren saudischen Nachbarn an, und da dürfen die Frauen bis heute noch nicht einmal Auto fahren.“ „So weit“, sagt er verbittert, „hat der Westen mit seinem Krieg und seinen Sanktionen dieses Land und seine Menschen gebracht.“

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