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„Abscheuliche Straftaten“

Interview CHRISTIAN RATH

taz: Wer als Rechtspolitiker auf billigen Beifall schielt, muss nur härtere Strafen für den sexuellen Missbrauch an Kindern fordern. Jetzt haben auch Sie als neue Justizministerin in diesen Chor eingestimmt. Sind Sie eine verkappte Populistin?

Brigitte Zypries: Das sollen andere beurteilen. Ich will aber darauf hinweisen, dass ich mir den Zeitpunkt für dieses Thema nicht ausgesucht habe. Es sollte eigentlich Teil eines größeren Gesetzespaketes sein, das auch den Opferschutz im Strafprozess verbessert. Wir haben die Änderungen im Sexualstrafrecht jedoch vorgezogen, weil die CDU/CSU-Fraktion einen Gesetzentwurf zum sexuellen Missbrauch vorgelegt hat, dem wir unseren sachgerechteren Lösungsansatz entgegenstellen wollen.

Ist also der CDU-Gesetzentwurf populistisch?

Er hat jedenfalls keinen aktuellen Anlass. In vielen Punkten wurden hier nur bereits abgelehnte Initiativen aus der alten Wahlperiode neu aufgewärmt.

Umso erstaunlicher, dass nun Sie als neue Justizministerin wesentliche Punkte übernommen haben. Auch Sie wollen die Mindeststrafe für sexuellen Missbrauch an Kindern von sechs Monaten auf ein Jahr erhöhen. Warum?

Diese Heraufstufung soll deutlich machen, dass der Kindesmissbrauch zu den abscheulichsten Straftaten überhaupt gehört.

Aber der „Mord an Kinderseelen“ ist heute schon ein Verbrechen. Als „schwerer“ sexueller Missbrauch gelten alle Fälle, bei denen die „Gefahr einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung“ des Kindes besteht. Darauf steht jetzt schon eine Mindesstrafe von einem Jahr …

Es geht darum, der Gesellschaft ein Signal zu geben, dass auch die nicht ganz schweren Fälle besonders verwerflich sind.

Haben Sie denn Anzeichen dafür, dass die Strafen in solchen mittelschweren Fällen bisher zu gering sind?

Soweit ich weiß, gibt es noch keine entsprechenden Untersuchungen.

Nehmen wir einen vielleicht typischen Fall. Ein Schwimmtrainer betatscht die ihm anvertrauten Mädchen an den Genitalien. Werden die Mädchen und ihre Eltern noch die Polizei einschalten, wenn dem Trainer mindestens ein Jahr Haft droht?

Das hoffe ich doch sehr. Aber selbstverständlich müssen die angedrohten Strafen angemessen sein. Deshalb muss es die Möglichkeit geben, minder schwere Fälle auch mit weniger als einem Jahr Haft zu bestrafen.

Was aber ist gewonnen, wenn ein bisher durchschnittlicher Fall künftig als „minder schwerer Fall“ gewertet werden muss, damit man eine angemessene Strafe verhängen kann? Für die Opfer einer Tat ist es doch eher verletzend, wenn ein Übergriff als „minder schwer“ eingestuft wird …

Das ist eine Frage der Begrifflichkeiten. Wie die Lösung rechtstechnisch ausgestaltet sein wird, prüfen wir derzeit noch.

Der Deutsche Anwaltverein hat darauf hingewiesen, dass die Einstufung von durchschnittlichen Missbrauchsfällen als Verbrechen auch für die Opfer belastend sein kann. Eine Einstellung des Verfahrens ist nicht mehr möglich, eine mündliche Verhandlung mit Aussage des Opfers muss immer durchgeführt werden. Eine zweite Traumatisierung droht …

Erstens sind die meisten Argumente des Deutschen Anwaltvereins dadurch zu entkräften, dass wir weniger gravierende Fälle gesondert behandeln. Dann wird es nicht in allen Fällen notwendigerweise eine Hauptverhandlung geben müssen. Zweitens gibt es bereits jetzt die Möglichkeit der Videovernehmung im Nebenraum, um dem Opfer eine zweite Begegnung mit dem Peiniger zu ersparen. Wir prüfen, wie wir den Opferschutz auf diesem Gebiet noch ausbauen können.

Warum erklären Sie der CDU und der Öffentlichkeit nicht einfach, dass die schweren Fälle von Kindesmissbrauch heute schon als Verbrechen gelten und die übrigen zu Recht anders eingestuft werden? Sie könnten sich so viele komplizierte Ausnahmeregelungen ersparen …

Es geht eben darum, den erheblichen Unwertgehalt dieses vermeintlich „einfachen“ Missbrauchs klarzustellen.

Nun ist aber ein etwas seltsamer Eindruck entstanden: Die neue Ministerin kommt aus dem Innenministerium, fordert ohne Not härtere Strafen, geht dabei auf die CDU zu und stößt die rot-grünen Fraktionen vor den Kopf. War das Ihr Plan, um sich Respekt bei den Konservativen zu verschaffen?

Die Fraktionen von SPD und Grünen tragen meine Vorschläge doch mit.

In der Parlamentsdebatte haben sich die Grünen und die SPD vorige Woche klar gegen die Verschärfung ausgesprochen …

In den Vorgesprächen waren wir uns weitgehend einig. Da gibt es möglicherweise an der einen oder anderen Stelle noch Gesprächsbedarf. Aber die gemeinsame Linie steht.

Wie würden Sie sich als Kriminalpolitikerin einschätzen: liberal, hart oder pragmatisch?

Zwischen den Sicherheitsinteressen der Gesellschaft und den Grundrechten Einzelner muss stets ein sachgerechter Ausgleich gefunden werden. Das kann man von mir aus „pragmatisch“ nennen.

Kanzler Schröder sagte voriges Jahr, wer sich an kleinen Mädchen vergreife, den sollte man „wegschließen, und zwar für immer“. Stufen Sie das als Polemik ein oder als fachlichen Diskussionsbeitrag eines Juristen und Kabinettskollegen?

Ich teile die Einschätzung des Kanzlers, dass im Grundsatz Opferschutz vor Täterschutz geht.

Der renommierte Gerichtspsychiater Norbert Leygraf hat einmal gesagt: „Man muss mindestens zehn Menschen unnötig einsperren, um auch einen wirklich gefährlichen festzuhalten.“ Halten Sie das für richtig?

Ich weiß nicht, worauf er diese Annahme gründet. Ich halte es jedenfalls für richtig, dass jemand bei einer Rückfallgefahr eher länger drin bleiben muss. Im Übrigen müssen wir durch verbesserte Prognosen sicherstellen, dass möglichst wenig Straftäter unnötig in der Sicherungsverwahrung oder in einer psychiatrischen Klinik festgehalten werden.

Haben wir überhaupt genügend qualifizierte Gutachter?

Davon gehe ich aus. In diesem Bereich ist eine Menge geschehen, und die Länder arbeiten weiter an Verbesserungen.

Von 1996 bis 2001 stieg die Zahl der Personen, die in Sicherungsverwahrung sitzen, um rund 50 Prozent. Halten Sie das für eine richtige Entwicklung?

Man muss doch sehen, dass die absoluten Zahlen im Vergleich zu den Verurteilungen immer noch recht niedrig sind. Derzeit sitzen deutschlandweit rund 250 Menschen in Sicherungsverwahrung. Und das sind längst nicht alles Sexualtäter, sondern darunter sind auch Mörder, Räuber und notorische Einbrecher.

Mit der Union liegen Sie im Streit, ob Sicherungsverwahrung auch nachträglich angeordnet werden kann, wenn sich die langfristige Gefährlichkeit eines Täters erst in der Haft herausstellt. Warum sind Sie dagegen?

Ich halte dies verfassungsrechtlich nur für möglich, wenn die Sicherungsverwahrung bereits im Strafurteil vorbehalten wurde. Eine entsprechende Änderung haben wir im Sommer ins Strafgesetzbuch eingefügt. Ohne einen Bezug zur vorangegangenen Straftat handelt es sich um reine Gefahrenabwehr, für die allein die Länder zuständig sind. Hierfür kann es kein Bundesgesetz geben.

Befürworten Sie entsprechende Ländergesetze?

Ja.

Unter welchen Bedingungen könnte es doch noch ein Bundesgesetz über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung geben?

Wenn ein Verfassungsgericht feststellte, dass solche Fragen per Bundesgesetz zu regeln sind.

Die Union fordert außerdem, dass auch für Ersttäter die Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann. Bisher gilt dies nur für Rückfalltäter. Hier wäre ein Bundesgesetz ohne weiteres möglich …

Grundsätzlich ist die Sicherungsverwahrung Ultima Ratio. Die mit ihr verbundene dauerhafte Freiheitsentziehung ist ein massiver Grundrechtseingriff, der nur unter besonderen Bedingungen verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Regelmäßig wird bei einem Ersttäter die Erkenntnisgrundlage nicht ausreichen, den dafür nötigen „Hang zu erheblichen Straftaten“ zu begründen.

Wäre es da nicht sinnvoll und konsequent, die Sicherungsverwahrung ganz auf Gewaltdelikte zu konzentrieren und Straftaten gegen das Vermögen künftig auszunehmen?

Das ist eine schwierige Diskussion. Auch ein notorischer Scheckkartenbetrüger oder Einbrecher kann sehr hohen Schaden und viel Leid anrichten.

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