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„Pisa ist auch ein Armutszeugnis“

Wolfram Stein, Lehrer am Schulzentrum Walliser Straße, fordert endlich einen Bremer Armutsbericht. Sowohl die Pisa-Länderstudie als auch der mit Behelfsdaten erstellte Armutsbericht der Arbeitnehmerkammer weisen auf den Zusammenhang von Bildungschancen und sozialer Lage hin

Die Arbeitnehmerkammer hat im September einen Armutsbericht vorgelegt. Sie schließt damit eine Lücke, um die sich die Senatspolitik nie gekümmert hat. Man staunt allerdings, dass auch in dem Kammerbericht die Pisa-Ergebnisse nur gestreift werden. Woher kommt diese Reaktion beim Thema Armut in Bremen?

Armut wird vor allem als „absolute“ Armut wahrgenommen. Wenn wir im UN-“Human Development Report 2001“ lesen, dass weltweit 1,2 Milliarden Menschen von weniger als einem Dollar täglich leben, dass es 854 Millionen Analphabeten gibt, dass 163 Millionen Kinder unter 5 Jahren an Untergewicht leiden und dass die durchschnittliche Lebenserwartung in den ärmsten Ländern bei nur 51,7 Jahren liegt, dann haben wir eine Vorstellung von Armut, die mit unseren Lebensverhältnissen wenig zu tun hat. Es würde sich dann geradezu verbieten, in Bremen von Armut zu reden. Aber dieser Index für menschliche Armut, der HPI 1 (Human Poverty Index), bewertet – so heißt es ausdrücklich in dem UN-Bericht – die Armut in den Entwicklungsländern. Für die OECD-Staaten wurde ein anderer Maßstab, der HPI 2-Index entwickelt. Ihm liegt ein „relativer“ Armutsbegriff zu Grunde – relativ in Bezug auf den gesellschaftlichen Entwicklungsstand.

Für die Industriestaaten gilt ein anderer Maßstab

Der HPI 2 untersucht erstens, wie viele Menschen mit weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens unter der Armutsgrenze leben, er fragt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, das 60ste Lebensjahr nicht zu erreichen, wie hoch die „Ausgrenzungsrate“ ist – gemessen am Anteil der Langzeitarbeitslosen, und nicht zuletzt, wie hoch der Prozentsatz der „funktionalen Analphabeten“ ist.

Für Bremen liegen solche Daten mangels eines Armutsberichts nicht vor. Man hilft sich – so auch die Arbeitnehmerkammer – mit anderen Daten: Sozialhilfeempfänger bekommen 47% des Durchschnittseinkommens (DIW- Studie), leben also unter der Armutsgrenze. In Bremen leben fast 10 Prozent der Menschen und 20 Prozent der Kinder von Sozialhilfe. Hier ist Bremen nicht nur unter den Bundesländern, sondern auch im Vergleich der Großstädte Spitze. Bei der Lebenserwartung ist fraglich, ob in unserem Sozialstaat Armut überhaupt Auswirkungen hat. Ein Indiz dafür, dass es durchaus auch hierzulande einen Zusammenhang gibt, ist die Lebenserwartung in Tenever, dem Bremer Ortsteil mit der höchsten Sozialhilfequote: Sie liegt 4 Jahre unter dem bremischen Schnitt.

Wege aus der Armut enden in Sackgassen

Anlässlich einer Diskussion zum Thema Kinderarmut am Schulzentrum Walliser Straße in Tenever erklärte Bürgermeister Henning Scherf, „Arbeit und Bildung sind die Wege aus der Armut“ (vgl. taz 21.12.00). Im Bereich Arbeit wertet der Armuts-Index den Anteil der Langzeitarbeitslosen. Hier steht Deutschland im OECD-Vergleich schlecht da. Im Ländervergleich liegt Bremen mit 38,4 Prozent (2001) der Arbeitslosen an letzter Stelle selbst hinter den neuen Bundesländern. Im Vergleich der Großstädte rangieren – mit wenigen Ausnahmen – nur alte Ruhrgebietsmetropolen wie Dortmund und Essen hinter Bremerhaven und Bremen. Seit Jahren gibt es darüber hinaus einen Mangel an Ausbildungsplätzen, der Jugendliche zu Warteschleifen im Schulsystem und auf die Straße zwingt. Der Weg aus der Armut mit Namen Arbeit scheint in Bremen in vielen Fällen in der Sackgasse der Ausgrenzung zu enden.

Chancengleichheit bleibt auf der Strecke

Bleibt der Bereich Bildung: „Funktionaler Analphabetismus“, also massive Verständnisschwierigkeiten noch unterhalb der von der Pisa-Studie erfagten untersten Lese-Kompetenzstufen ist hier das Kriterium des HPI 2. Deutschland steht mit 10 Prozent ohnehin im OECD-Maßstab besonders „arm“ da. In Bremen liegt diese Rate laut Pisa bei 18,2 Prozent. Dieser Anteil liegt deutlich über dem von Mexiko (16,1 Prozent) oder Russland mit 9,0 Prozent. (Diese Ergebnisse beziehen sich freilich auf die Schulgänger, es ist zu vermuten, dass in Mexiko und Russland sehr viel mehr Kinder die Schule erst gar nicht besuchen.)

Auch sonst liegt in Bremen eine enge Korrelation von Armut und fehlenden Chancen im Bereich Bildung vor (siehe etwa den Anteil der Gymnasialschüler je Ortsteil). Der Weg aus der Armut mit Namen „Bildung“ scheint in Bremen im Kreisverkehr zu enden, da die bremische Bildungspolitik unterschiedliche Startchancen nicht kompensiert, sondern reproduziert. Pisa ist für Bremen eben ein Armutszeugnis.

Pervers: Kinder sind ein Armutsrisiko

Der „Runde Tisch Bildung“ legt eines seiner Schwergewichte auf die Überwindung der „sozialen Koppelung“. Was heißt das? „Je niedriger der wirtschaftliche und soziale Status einer Familie ist, desto geringer sind die Chancen auf einen erfolgreichen Bildungsabschluss der Kinder“. Das Problem wird noch dadurch verschärft, dass Kinder heute das größte „Armutsrisiko“ darstellen, eine perverse Aussage über unsere Gesellschaft.

Die Tatsache, dass eine Schwachhauserin durchschnittlich eine Geburtenrate von 1,0 aufweist, in Tenever aber von 2,3 – übrigens wäre eine Rate von 2,1 erforderlich zur gesellschaftlichen Reproduktion – zeigt schlaglichtartig, wo das Problem liegt: Den Kinderreichen droht Armut, den Kinderarmen bleiben die besseren Chancen. Das Ziel der Chancengleichheit, der Ausgleich von sozialen Benachteiligungen – eines der Hauptziele der Bremer Bildungspolitik der letzten 40 Jahre – wurde „auf dramatische Weise verfehlt“, wie der Runde Tisch festhält.

Sicher, das Bremer Schulsystem leistet auch zu wenig in der Förderung seiner leistungsstärksten Schüler (auch wenn es hier im Bundesvergleich noch einigermaßen mithalten kann), das Bildungsdesaster liegt aber vor allem im Armutsbereich, der als solcher nicht öffentlich diskutiert wird.

Unicef bestätigt Befürchtungen

Bestätigt wird dieser Befund auch von der jüngst erschienenen Unicef-Studie, die neben Pisa auch die Mathematik-Untersuchung TIMSS und weitere Vergleichstests für die reichsten 24 Staaten der Welt untersucht. Deutschland liegt hier auf Platz 19 von 24. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus deutschen Familien mit niedrigem Bildungsstand nur unzureichend Lesen und Schreiben lernen, sei drei Mal höher als bei Kindern aus privilegierten Elternhäusern, kommentiert die Unicef: “Schwächere Schüler werden einfach abgehängt“, so Dietrich Garlichs, Chef von Unicef Deutschland. Die frühe, angeblich den unterschiedlichen Begabungen angemessene Festlegung der Schullaufbahn durch das dreigliedrige Schulsystem fördert die Fähigkeiten der Schüler keineswegs besser als die integrierten skandinavischen Systeme, so Unicef.

Verlierer sind dabei vor allem die Kinder aus armen Familienhaushalten, sowohl deutscher Herkunft als auch derjenigen mit Einwandererhintergrund. Der Runde Tisch Bildung gibt hier das richtige zentrale Ziel vor: “Herausforderung und Förderung der Schülerinnen und Schüler haben Vorrang vor Belehrung und Selektion“.

CDU verhindert Bremer Armutsbericht

Im Wahlkampf hat die CDU so getan, als wolle sie Armut thematisieren: „ 4 Millionen Arbeitslose – Armutszeugnis der Regierung Schröder“ plakatierte sie und recht hatte sie: Viele Arbeitslose leben unter der Armutsschwelle. Aber die CDU will gar nicht von dem Armutsproblem in Deutschland und Bremen reden, im Gegenteil, sie stellt sich mit aller Kraft gegen die Forderung der Arbeitnehmerkammer: „Armut muss öffentlich werden“. Die rot-grüne Bundesregierung veröffentlichte gegen den Widerstand der CDU/FDP-Opposition den ersten deutschen Armutsbericht. Während in vielen Bundesländern Berichte vorliegen, gelang es der CDU, einen dringend erforderlichen Bremer Armutsbericht dieses Senats zu verhindern. Als sie von Schülern eines Projektes „Kinderarmut“ des SZ Walliser Straße zur Erstellung eines Armutsberichtes aufgefordert wurde, antwortete die damalige Sozialsenatorin Hilde Adolf in einem Brief: „Ich bin der Auffassung, dass eine regelmäßige Bremer Armuts- und Reichtumsberichterstattung ein wichtiges Instrument für politisches Handeln sein kann. Sollte es zu einem entsprechenden Beschluss in der Bürgerschaft kommen, was ich hoffe, so werde ich versuchen, dass in einem solchen Bericht ein besonderes Gewicht auf die Situation von Kindern gelegt wird“.

“Wenn man nicht dran rührt“, heißt es in dem Bericht der Arbeitnehmerkammer, „dann bleibt die Armut eben dort, wo sie sich auch entwickelt, nämlich weitestgehend im Verborgenen“. Das kann nicht länger geduldet werden, wie auch Pisa gezeigt hat. In einem Bericht des Senators für Bildung, der Bremen im Städtevergleich 1999 Hannover, Dortmund, Düsseldorf, Nürnberg und Stuttgart gegenüberstellt, heißt es: „Deutlich größer als in den Vergleichsstädten ist die Sozialhilfedichte bei Kindern unter 18 Jahren. Dieses lässt darauf schließen, dass die Bremer Schulen deutlich umfangreicher mit sozialen Problemlagen belastet werden als die Schulen in den anderen Vergleichsstädten.“

Armut: eine Aufgabe für jedes Ressort

In vielen Behörden stößt man immer wieder auf das Armutsproblem, aber eine systematische Armutsberichterstattung hat der Senat bisher aus politischen Gründen unterlassen.

Auch die Empfehlungen des Runden Tisches legen die Notwendigkeit einer solchen Berichterstattung nahe. Denn mit der „Fokussierung auf pädagogische Aspekte sind Politik und Gesellschaft keineswegs aus ihrer Verantwortung ( für die Verringerung der sozialen Koppelung) entlassen: Stadtteilplanung, Einwanderungs- und Wirtschaftspolitik, Familien- und Sozialpolitik bleiben auf ihrem Feld in der Pflicht. Nur ein gemeinsames Handeln aller Verantwortungsträger wird auf Dauer diese Krise überwinden“. Hilfreich wird hier ein Bremer Armutsbericht sein, den der neue Senat vorlegen muss. Schließlich: Jeder weiß, dass zur Lösung des Armutsproblems in der Bildung mehr Geld investiert werden muss. Angesichts der Tatsache, dass sich in Bremen nicht nur Armut, sondern auch Reichtum konzentrieren, erscheint der Vorschlag des niedersächsischen Ministerpräsidenten auf Wiedereinführung der Vermögenssteuer zugunsten des Bildungssystems ein Gebot der Stunde.

Wolfram Stein

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