: „Menschen wollen keine Massenhaltung“
Die Integration von psychisch Behinderten hat noch einen langen Weg vor sich, sagt Professor Klaus Dörner.Der ehemalige Leiter einer Gütersloher Klinik äußert sich zu der Umsetzung der Psychatriereform in Deutschland
taz: Hat die Psychiatriereform allen Behinderten geholfen?
Klaus Dörner: Nein. Zwar bedeutet die Psychiatriereform, dass sich die Lebensbedingungen für eher kurzfristig psychisch Kranke deutlich verbessert haben, weil sie in der Gemeinde, in der sie leben, doch zumeist die Dinge finden, die sie brauchen – allerdings um den Preis, dass die längerfristigen, die chronisch Kranken benachteiligt sind, da sie aus den Landeskrankenhäusern heraus in eher abgelegene Heime umhospitalisiert worden sind.
Worin unterscheiden sich diese abgelegenen Heime, die die Kranken ja weiterhin ausschließen, von den früheren Großanstalten?
Dass sie keine Massenhaltung betreiben. Die hat man ja auch bei den Hühnern, und Menschen wollen sie noch dreimal weniger als Hühner.
Was wünschen Behinderte?
Jeder Mensch – er kann so schwer behindert sein, wie er will – hat dasselbe Bedürfnis wie Sie und ich, dass er aus seiner eigenen Wohnung weggeht, um irgendwo regulär oder stundenweise zu arbeiten. Und falls dieser Mensch nicht arbeiten kann, dann tritt an die Stelle des Arbeitens das Geselligkeitsbedürfnis.
Kann sich ein Behinderter diesen Wunsch nach Geselligkeit problemlos durch Kontakte mit Gesunden erfüllen?
Nein, zurzeit noch nicht. Und das wird auch so schnell nicht möglich sein. Denn dann müssten Sie die meisten Bürger dazu gebracht haben, dass diese einen Teil ihrer Wochenzeit mit Behinderten verbringen. Das werden Sie so schnell nicht erreichen. Alternativen sind Werkstätten für Behinderte und Selbsthilfegruppen sowie für schwerer Behinderte eine Tagesförderstätte.
Also findet keine richtige Integration statt?
Ja, natürlich kann das sein. Immerhin sind die Menschen 150 Jahre entwöhnt gewesen: Vor 150 Jahren wurden die geistig und psychisch Behinderten hinter den Mauern der Großanstalten weggeschlossen. Und heutzutage können Sie von den normalen Menschen nicht verlangen, dass diese von einem auf den anderen Tag begeistert sind. Ein gegenseitiger Anpassungsprozess wird noch einmal hundert Jahre dauern.
Ist die ambulante Betreuung eigentlich für alle Behinderten geeignet?
Ja, obwohl es Menschen gibt, zum Beispiel die geistig Schwerstbehinderten oder auch verhaltensauffällige, fremdgefährliche Menschen, die auch in einer normalen Wohnung eine hautnahe Betreuung brauchen, die notfalls rund um die Uhr gehen muss. Diese bilden aber eine kleine Minderheit.
Der Psychiater Luc Ciompi schrieb, dass komplexe, häufig wechselnde Umgebungsfaktoren – wie zum Beispiel ein häufiger Wechsel von Bezugspersonen – die Behandlung psychisch Kranker erschweren können. Besteht die Gefahr, dass die Bezugspersonen bei ambulanter Betreuung häufiger wechseln?
Nein. Eine ambulante Behandlung hindert den Patienten ja nicht daran, eine einheitliche Bezugsperson zu behalten. So hat beispielsweise jede psychiatrische Klinik und jede Abteilung die Möglichkeit, eine Institutsambulanz zu betreiben, das heißt, dass die Bezugsperson, die auf der Station für den Patienten in seinem akuten Zustand zuständig gewesen ist, zumindest für die nächste und eventuell auch für längere Zeit auch die ambulante Bezugsperson bleibt.
Im Jahre 1978 wurde in Italien ein Modell gesetzlich verankert, wonach psychisch Kranke nur in allgemeinen Krankenhäusern, Tageskliniken oder zu Hause behandelt werden dürfen. Was halten Sie von der Psychiatriereform in Italien?
Mich hat die italienische Psychiatriereform noch nie besonders interessiert. Obwohl sie an wenigen Orten, an denen die ambulanten Betreuungsmöglichkeiten gestärkt wurden, ganz gut gelaufen ist – beispielsweise in Triest oder in einigen mittelgroßen italienischen Städten –, kann diese Art der Reformierung kein vorbildlicher Weg sein. Dass Leute auf die Straße gesetzt werden oder im Gefängnis landen oder den Familien aufs Auge gedrückt werden, ist unverantwortlich. Man sollte sich nicht mit Italien beschäftigen, das ist nicht besonders lehrreich.
In welchen Ländern lief die Psychiatriereform besser?
England ist immer schon sehr lehrreich gewesen, und noch lehrreicher sind die skandinavischen Länder. So haben sich die Schweden über vierzig Jahre Zeit genommen für den Prozess und jetzt erreicht, dass alle Menschen mit Behinderungen in normalen Wohnungen leben und dass sie auch – soweit sie es wollen – arbeiten können. Vor kurzem erließen die Schweden ein Gesetz, das es verbietet, dass Menschen in Heimen oder anderen Institutionen gehalten werden. Die Schweden sagen: Das ist Massenhaltung, das verstößt gegen die Würde des Menschen. Dieses Schlussgesetz hat den Prozess abgeschlossen. Die Schweden haben diesen Befreiungsprozess aber noch nicht für die alten, altersverwirrten Menschen durchgesetzt, diese Aufgabe steht ihnen noch bevor.
INTERVIEW: C. BORCHARD-TUCH
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