Von der Rückseite des Mondes

Der rot-grünen Regierung geht der Ruf voraus, anders als die Konservativen für außergewöhnliche Politikentwürfe aufgeschlossen zu sein. Ein Trugschluss. In Wirklichkeit geht alles seinen gewöhnlichen bundesdeutschen Gang. Vor allem beim Blick auf die geschlechterdemokratischen Verhältnisse. Dort, ob bei der Frauen- wie der Familienfrage, dominiert die klassische Männerperspektive. Unkonventionelle Vorschläge einer Laiin zu Zeitfragen

von HELKE SANDER

Der Bundeskanzler diniert mit dem Philosophen Sloterdijk, mit seinen Kusinen aus dem Ostvolk, mit Udo Lindenberg und trifft von Zeit zu Zeit Leute, die nichts mit Politik zu tun haben, um am Puls der Zeit zu bleiben. Auf diesen informellen Wegen soll das, was unten und abseits gedacht wird, oben zur Kenntnis gelangen und eventuell nach Prüfung ins eigene Bezugssystem sickern. Schön und gut.

Aber hat schon mal jemand gehört, dass der Bundeskanzler, beispielsweise, Halina Bendkowski zum Abendessen eingeladen hätte? Oder andere Frauen aus den Parallelwelten zur herrschenden Öffentlichkeit, um mehr über die Spätfolgen nichtentwickelter Geschlechterdemokratie oder von der Rückseite des Mondes zu erfahren? Wenn das, was dort gedacht wird, in den öffentlichen Denkstrom Eingang findet, dann wechseln normalerweise auch die Urhebernamen.

Es gibt öffentlich behandelte Themen, die über Jahrzehnte damit auskommen, bestimmte Aspekte gerade nicht zu beleuchten. Nicht etwa, weil sie nicht oder noch nicht gedacht werden könnten und die Voraussetzungen fehlten, sondern weil sie in einer Art kollektiven Übereinkommens nicht beachtet werden. Das ist daran erkennbar, dass sie sich in keiner Weise in den Medien widerspiegeln – und dies nicht als Mangel erkannt wird.

Beim Stichwort Familie wurde und wird in der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten nahezu alles ignoriert, was in jenem Teil der Frauenbewegung gedacht wurde. Die Tatsache allein, dass Frauenbewegung und Alice Schwarzer als nahezu eins gelten, ist für sich schon der Beweis für die Nichtbeachtung geistiger Prozesse, die sich abseits des Offiziellen abspielen.

Die vielen Abspaltungen von der KPD, ja sogar noch die Aufsplitterung der Studentenbewegung in marxistisch-leninistische Kleinstgruppen war viele Analysen wert, die nachgelesen werden können. Dass die Frauenbewegung vielseitig war und nicht identisch mit Alice Schwarzer, ist den meisten nicht einmal mehr bewusst.

Denkprozesse müssen eben ermuntert und diskutiert werden, sonst verkümmern sie. In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit verlagerte sich die Frauenbewegung frühzeitig von einer an Theorie und speziell Reproduktionsfragen interessierten, zu einer eher ein Lebensgefühl repräsentierenden und sich mehr mit Sexualität als mit Reproduktion beschäftigenden Bewegung, aus der die Kinderfrage ausgeschlossen wurde.

Dennoch existierte der alte Schwerpunkt vereinzelt weiter und bildet so was wie die Hefe für die Familiendiskussionen heute. Ihr fehlen allerdings wichtige Merkmale der damaligen Überlegungen. Das Wichtigste ist, dass die Reproduktions-, das heißt Kinderfrage nicht anhand der Familie, sondern der Frauen diskutiert wurde.

Früher wurden andere als die heute erwogenen Lösungen diskutiert. Dass die Familie „das stabile Zentrum der Gesellschaft“ bilden konnte, hatte zwei Voraussetzungen: die rechtliche Ungleichheit der Frauen. Und die Bindung der praktizierten Sexualität der Frauen an den Vater der Kinder.

Dadurch hat sich die Institution als ziemlich belastbar herausgestellt. Sie war in der Lage, sich an alle wirtschaftlichen, technischen und sozialen Veränderungen anzupassen, solange die Voraussetzung, die Rechtlosigkeit der Frauen, von den Veränderungen ausgenommen blieb, was von der Groß- bis hin zur Kleinfamilie – Vater, Mutter, Kind – der Fall war.

Die spätere Hinzufügung der Liebe war geeignet, Frauen bei der Stange zu halten – und konnte dies, solange in religiöser, wissenschaftlicher und psychologischer Übereinkunft die Bindung der Sexualität der Frau an einen lebenslangen Partner als Selbstverständlichkeit galt. Das hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren grundlegend gewandelt – was gewissermaßen automatisch zu den Auflösungserscheinungen, die wir alle wahrnehmen, geführt hat.

Frauen haben inzwischen die gleichen Bürgerrechte. Sie müssen den Mann nicht mehr fragen, wenn sie erwerbstätig sein wollen. Sie können erben. Scheidungen sind erleichtert. „Illegitime“ Kinder haben die gleichen Rechte, Unehelichkeit ist kein Makel mehr. Jungfernschaft für die Ehe ist keine Pflicht. Der Wechsel der Objekte der Begierde wird auch Frauen zugestanden, und wenn Frauen ein Medikament nehmen, können sie über den Zeitpunkt ihrer Gebärfähigkeit selber entscheiden.

Das alles, wie gesagt, ist noch nicht lange so, und es ist überhaupt nur so, weil sich Frauen dafür eingesetzt haben. Was aber vollkommen aus der Diskussion ausgeschlossen scheint, ist die Tatsache, dass für die Organisation der Institution Familie, soll sie funktionieren und ihren Sinn erfüllen, zumindest einige der traditionellen Zuordnungen weiterhin notwendig sind.

Eine funktionierende Familie ist an die Monogamie, besonders die der Frau gekoppelt. Sie widerspricht damit den Realitäten. Für den Mann ist die Familienfrau gewöhnlich nicht die einzige Sexualpartnerin, und die Ehefrau mag sich das Monogamiegebot heute möglicherweise zwar noch vielfach vornehmen, es aber nicht durchhalten.

Die sich daraus ergebenden Konflikte in der Kleinfamilie werden zwischen den Geschlechtern durchaus unterschiedlich gelöst. Die Kleinfamilie ist ohne Prostitution nicht denkbar, sie stabilisiert sie. Familie wird normalerweise definiert als Vater, Mutter, Kind.

Und das ist falsch. Es muss heißen: Vater, Mutter, Kind, Hure. Die Prostituierte gehört zur Familie wie das Amen in die Kirche. Frauen haben normalerweise weder das Geld noch die Lust, ihre sexuellen Mangelerscheinungen auf ähnliche Weise zu lösen wie die Männer, die das täglich millionenfach tun. Täglich werden in Deutschland etwa 1,2 Millionen „sexuelle Dienstleistungen“ gekauft – und das sind nur die nachweisbaren Zahlen.

Die programmierten und ja auch tatsächlich existierenden Konflikte werden in der gegenwärtigen Familiendiskussion nicht zugespitzt erörtert, weil die Öffentlichkeit grundsätzlich immer noch die Sorge für die Nachkommenschaft mit den sexuellen Neigungen der Eltern zusammendenkt. Ein Paar hat die gemeinsame Verantwortung für das Kind und den Wunsch nach stabilen Verhältnissen.

Doch normalerweise gibt es im Lauf des Zusammenlebens auseinander driftende sexuelle und andere Interessen, die ein Zusammenleben nur der Kinder wegen für alle zur Qual machen.

Diese muss heute nicht mehr ertragen werden; aber sie wird es, weil die praktischen Probleme anders nicht zu lösen wären. Für die einen gibt es die Bumsbomber nach Thailand, um der Eheenge zu fliehen, für die anderen die Frauengruppe, um den Zustand überhaupt erst mal zu analysieren.

Dieser Zustand tendiert, jenseits bekannter Ausnahmen, weg von der Kleinfamilie hin zur Kernfamilie: zu Mutter und Kind. Genau das muss bei jeder Familienpolitik begriffen und eher als Chance denn als Klage genutzt werden.

Damit sind Mütter und Kinder momentan jedoch überfordert. Kinder – und auch Erwachsene – brauchen nicht nur Männer, die ihnen gewogen sind und sie stabil begleiten, sie brauchen auch verschiedene Generationen und einen sicheren Ort. Keine Frage, dass Ganztagsschulen und Kindergärten die Sache erleichtern und notwendig sind, aber sie lösen das Problem nicht.

Über Jahrhunderte mussten Frauen mehr Kinder bekommen als sie wollten. Heute haben wir das umgekehrte Problem. Frauen, die Kinder wollen, entscheiden sich gegen sie, weil sie realistisch genug sind, die Folgen dieses Wunsches zu sehen und so viel Fantasie haben, um eine Vorstellung davon zu entwickeln, was für sie und die Kinder gut und wünschenswert wäre – und einsehen, dass sie genau das nicht bieten können.

Der Kern des Problems: Aus einer biologischen Fähigkeit wird ein soziales Handicap. Die Gebärfähigkeit unterdrücken zu müssen ist auch eine Unterdrückung. Das sind ungefähr die Überlegungen, die 1968 am Anfang der neuen Frauenbewegung standen. Als die Frauenbewegung jünger und größer wurde, verflüchtigten sich diese Ideen weitgehend. Sie wurden nur noch sporadisch von verschiedenen Gruppen weitergedacht.

Anfang der Siebzigerjahre hat die Frauengruppe „Brot und Rosen“ erste Überlegungen zur Lösung des Problems angestellt, die 1975 im Jahr der Frau auch der Bundesregierung vorgetragen wurden, aber damals vollkommen konsequenzlos blieben. Die meisten dieser nie mehr als zwölf Frauen umfassenden Gruppe waren Künstlerinnen, daher waren die entsprechenden Überlegungen nicht wissenschaftlich formuliert. Sie sollten eine Anregung für ExpertInnen sein, eine öffentliche Diskussion anzuzetteln und die Kosten dieses Vorschlags zu berechnen.

Der Grundgedanke ist einfach: Die Gesellschaft braucht Kinder. Frauen, die Kinder haben wollen, sollen dazu die Gelegenheit haben, ohne diskriminiert zu werden, das heißt, ohne dafür bestraft zu werden mit gering bezahlten Jobs, Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit vom Mann oder sozialen Einrichtungen, mit Entzug der Muße, mit Entbehrungen und Verzicht auf eigene Pläne, mit ungewollter Mobilität. Kinder haben das Recht, so ging die Überlegung weiter, im Rahmen des herrschenden Standards erzogen zu werden, in der BRD also auf einem hohen Niveau.

Darum, und das war der Kern unserer Forderung damals, sollte zunächst der Betrag festgelegt werden, den ein Kind tatsächlich kostet, um ohne Not großgezogen werden zu können und die besten Voraussetzungen zu erhalten. Also die realen Kosten von angemessener Nahrung, Wohnung, Kleidung, Erziehung, Vergnügen – was sehr viel mehr ist als die Unterhaltsberechnungen vermuten lassen. Bezahlt werden soll dies von allen erwachsenen Kinderlosen, inklusive den Vätern, an die Mütter der Kinder.

Alle Erwachsenen wären also für die Gesamtheit aller Kinder zuständig. Gleichzeitig würden sämtliche Privilegien auf allen Ebenen für Familien und Ehen wegfallen und das Steuersystem vereinfacht. Alle Erwachsenen – Männer immer und Frauen, solange sie keine Kinder haben – zahlen für alle Kinder ein, die als nächste Generation für den Lebensunterhalt der Älteren sorgen.

Mit dieser materiellen Sicherheit im Hintergrund können Mütter in die Lage versetzt werden, allmählich andere und eigene Lebensformen zu entwickeln, die echte Alternativen zur Ehe darstellen, ohne deren Auflösung zu propagieren, wenn Leute mit der Ehe zufrieden sind.

Die Väter der Kinder zahlen nicht mehr als persönliche Väter. Sie zahlen wie alle anderen gemessen am Einkommen eine Kindersteuer. Und unbenommen wäre ihnen, Extrazuwendungen zu zahlen.

Die Eltern können zusammenleben – oder auch nicht. Die Mütter könnten das Geld an den Vater übertragen, sollte er für das Kind sorgen wollen, oder an ihren Freund. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen sind heute so, dass es möglich wäre, Frauen bei einer Trennung oder Scheidung oder Unehelichkeit nicht in ein tiefes soziales Loch stürzen zu lassen.

Mehrere Kinder zu haben bedeutet heute für die Eltern, nur mit Mühe nicht zu Sozialfällen zu werden. Die materielle Verantwortung für jedes einzelne Kind würde also die Gesellschaft tragen und nicht die einzelnen Eltern. Die Formen, in denen das geschieht, müssen entwickelt werden. Sie werden sich, so unsere Annahme damals – und meine noch heute –, herauskristallisieren, wenn Mütter finanziell in die Lage versetzt werden, Kinder zu bekommen.

Die Sorge für die Kinder wäre nicht eine Familien-, sondern eine Mütterförderung. Die Mütter wiederum könnten, wenn sie wollen, die Väter integrieren. Die Frauen hätten dann die Chance, zeitgemäße Formen zu entwickeln, in denen sie Kinder und ihre davon unabhängigen Wünsche zusammenbringen können. Es wäre das erste moderne Modell, um Sexualität und die Sorge für die Nachkommenschaft zu trennen und Frauen einen Weg aus der Falle zu weisen.

Wenn erst einmal die Kosten realitätsnah festgelegt sind, können die Eltern oder die Mütter selber für Ganztagsschulen sorgen. Sie können alternative Wohnideen entwickeln, sie können mit den Vätern zusammenleben oder auch nicht. Väter, die sich sexuell nicht mehr an der Mutter orientieren, könnten dennoch ihre Beziehung zu den Kindern aufrechterhalten und müssten sich nicht drücken, weil sie finanziell von den Lasten nicht mehr aufgefressen würden.

Für diejenigen, die noch in der herkömmlichen Familie leben wollen, ist dieses Modell kein Hinderungsgrund. Es ist nur eine andere Finanzierungsidee, die sicherstellt, dass ein Auseinanderbrechen der Familie nicht in der Katastrophe für Frauen und Kinder endet – eine, die oft genug verbunden ist mit völliger Umstellung der Lebensverhältnisse und Orte.

Die „primitiven“ Gesellschaften scheinen von hoher Weisheit geleitet worden zu sein, in denen die Hauptbezugspersonen der Kinder nicht der leibliche Vater, sondern der Bruder der Mutter war. Der Vater konnte gehen oder die Mutter konnte sich anderen Sexualpartnern zuwenden, aber der Bruder der Mutter war das stabile Element, uninteressiert an der sexuellen Entwicklung der leiblichen Eltern und jenseits aller Liebeskatastrophen eine lebenslange Bezugsperson der Kinder.

Eine neue Familienpolitik heißt neue Frauenpolitik und Analyse der wirklichen Verhältnisse. Eine neue Familienpolitik ist Arbeitsmarktpolitik, ist Steuerpolitik. Sie greift in alle Bereiche.

HELKE SANDER, Jahrgang 1937, Filmemacherin und Autorin, lebt auf dem Lande in Sachsen-Anhalt