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5000 Spuren und kein Täter

Vor 65 Jahren bewegte der Sexualmord an der 7-jährigen Paula Neumann aus Eimsbüttel ganz Hamburg. Der Hauptverdächtige stritt die Tat stets ab, der Fall wurde nie geklärt. Noch 30 Jahre später gingen Hinweise bei der Polizei ein

Die Zeugin sah einen Mann mit einem verängstigten Mädchen in der Bahn

von BERNHARD RÖHL

Im Winter vor 65 Jahren kannte Hamburg fast nur ein Thema: Den Mord an einem 7-jährigen Mädchen. Der Tod der kleinen Paula Neumann wurde nie aufgeklärt. Auch der SS-Staat hat den Mörder nicht gefunden. Dem Hauptverdächtigen wurde die Tat nie nachgewiesen. Der Fall gilt als einer der Aufsehen erregendsten der Hamburger Kriminalgeschichte.

Am 12. Oktober 1937 begleitet die Mutter des Kindes, Helene Neumann, ihre Tochter von der Wohnung in der Fruchtallee 75 bis zum Eppendorfer Weg in Eimsbüttel. Dort verabschiedet sich das Kind um 9.30 Uhr, um allein die letzten Meter zur Schule an der Tornquiststraße zu gehen. Die Schule hat sie nicht mehr betreten, auch nach Hause kehrte sie nie zurück.

Am Abend suchte die besorgte Mutter die Polizeiwache in Eimsbüttel auf, um ihre Tochter als vermisst zu melden. Die Polizei nimmt ihre Ermittlungen auf: Von Mitschülerinnen erfährt sie, dass diese das Mädchen noch am Tag ihres Verschwindes vor dem Filmtheater im Eppendorfer Weg gesehen, haben, wie sie Fotos des Kinderfilms „Lockenköpfchen“ betrachtete.

In den Hamburger Tageszeitungen erscheinen Fahndungsmeldungen, der „Reichssender Hamburg“ wird eingeschaltet. Die Mordkommission verteilt 40.000 Flugblätter mit der Beschreibung des Kindes. Die Kriminalpolizei sucht mehr als 100 Männern in ihren Wohnungen auf, die als „Sittlichkeitsverbrecher“ registriert sind. Vergebens.

Erst 17 Tage nach dem Verschwinden wird eine wichtige Entdeckung gemacht. Auf Betreiben der regionalen NS-Führung, die die durch den Mord verunsicherte Bevölkerung offenbar beruhigen will, erhalten über 3000 SS-Leute den Befehl, das Gebiet westlich von Eimsbüttel und Stellingen und den Volkspark bis zur Trabrennbahn Bahrenfeld zu durchkämmen. Was die Polizei jedoch zunächst weiterbringt, entdecken nicht jene 3000, sondern zwei elfjährige Kinder, die am Nachmittag auf dem Gelände der Altonaer Sandsteinwerke bei den Windsbergen spielen.

Die beiden Jungen stoßen auf einen braunen Gegenstand, der aus dem Sand hervorragt. Sie ziehen einen gefüllten Schulranzen hervor. Auf einem der Schulbücher steht „Paula Neumann“. Später findet die Polizei in der Nähe noch die leere Brottasche des Mädchens.

Noch am selben Tag will der Parkwächter Rudolf Gliemann, ein ehemaliger Polizist, im Altonaer Volkspark Drosseln abschießen. Hinter dem Rondell des Lindenplatzes sieht er einen kleinen Fichtennadelhügel. Als er näher herankommt, entdeckt er zwischen Laub und Nadeln die Umrisse eines Kinderkopfes. Es ist die Leiche von Paula Neumann, sie liegt auf dem Rücken, das Kleid bis an die Leiste heraufgeschoben, mit der rechten Hand umklammert sie einen Kiefernzweig. Eine Schnur, wie sie von Bauhandwerkern benutzt wird, liegt um ihren Hals, ein Taschentuch mit den Initialien E.B. steckt im Mund.

Über 30 Kriminalbeamte befassen sich in den kommenden Wochen mit dem Mord. Sie erhalten zwar zahlreiche Hinweise, doch zunächst, ohne dass diese zu einer heißen Spur führen. Doch dann erscheint eine Zeugin bei der Altonaer Kriminalpolizei: Sie sagt aus, sie habe am 12. Oktober in der Straßenbahn vom Holstenplatz in Richtung Diebs- teich einen Mann beobachtet, der mit einem kleinen Mädchen die Bahn in Richtung Friedhof Diebsteich verlassen habe. Das Mädchen habe sehr verängstigt gewirkt. Als die Beamten ihr eine Puppe mit der Kleidung Paula Neumanns zeigen, erkennt sie diese sofort wieder.

Beim Studium der Akten stößt der verantwortliche Ermittler auf einen Mann namens Hugo Bunke. Bunke wohnt in der Quickborner Straße 23, betreibt einen Handel mit Büchern und Zigaretten und ist wiederholt wegen des versuchten oder vollzogenen Missbrauchs von Kindern auffällig geworden. Die Polizei durchsucht Laden und Wohnung Bunkes und entdeckt pornographische Bücher, Aktbilder von Kindern und Reste einer Schnur von der Art, mit der Paula Neumann erdrosselt worden war. Der Verdächtige sagt aber aus, er sei am 12. Oktober den ganzen Tag zu Hause gewesen, dem Namen nach sei ihm die Ermordete zudem überhaupt nicht bekannt. In seinen Laden kämen viele Kinder, da könne er sich die Namen nicht merken.

Bei einer weiteren Hausdurchsuchung findet die Kripo Taschentücher mit dem Monogramm „E.B.“. Bunkes Ehefrau sagt aus, sie stammten von seiner verstorbenen Schwester Emmi. Bunke bleibt bei seiner Version, er wisse nichts von einer Leiche, „und wenn 10.000 Zeugen kommen“. Trotz der dürren Beweislage nimmt die Polizei ihn unter Mordverdacht fest – vor allem, nachdem eine 14-Jährige zur Polizei gegangen war und ausgesagt hatte, der Verdächtige habe mit ihr „laufend solche Sachen getrieben“. Im Lauf der Ermittlungen stößt die Polizei auf gut 30 Schülerinnen, die Bunke bereits mindestens belästigt hatte. Er lockte die Kinder „mit schönen Märchenbüchern“ an, die er hinten im Ladenraum habe.

Dies sind auch die Taten, die Bunke vor Gericht zur Last gelegt werden, nicht der Mord an Paula Neumann. Er wird „wegen fortgesetzter Unzucht mit Kindern“ zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Zweiten Weltkrieg soll Bunke bei Zwangsarbeiten in einem Steinbruch umgekommen sein. Sicher ist dies aber nicht.

Der Mord an Paula Neumann blieb letztlich unaufgeklärt – trotz insgesamt 5000 gesammelter Spuren. Noch 30 Jahre nach der Tat gingen Hinweise bei der Hamburger Polizei ein.

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