Im Gespräch mit einer Impfgegnerin: Sabine hofft auf Omikron
Die Impffrage spaltet. Umso mehr gilt es, im Gespräch zu bleiben, findet unsere Autorin. Sie traf Sabine – die ist ungeimpft und will es bleiben.
W äre ich mit Sabine in einem Café oder einem Geschäft zufällig ins Gespräch gekommen, es hätte sich wohl schnell ein vertrautes Gefühl eingestellt. Wir leben beide im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, sind beide ungefähr Mitte 40 und Akademikerinnen. Wir haben beide zwei Kinder. Sabine hat früher im Kulturbereich gearbeitet und will jetzt Lehrerin werden, ich kenne einige, die wie sie in den Lehrerjob wechseln. Sabine hatte lange die taz abonniert, ich arbeite bei der taz.
Für diesen Text erhielt die taz-Redakteurin Antje Lang-Lendorff beim Print-Medienpreis der bayerischen Landeskirche 2022 den 1. Preis in der Kategorie „Hauptpreis Tageszeitungen“.
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Wir haben also viel gemeinsam. Und doch stehen wir auf verschiedenen Seiten. Denn Sabine ist ungeimpft und will es auch bleiben.
So sitzen wir an einem Nachmittag Mitte November, getestet und mit Abstand, ganz oben im taz-Haus. Nach einem ruhigen Sommer steigt die Inzidenz in diesen Wochen deutlich, vor allem in Sachsen, Thüringen und Bayern. Das Unverständnis gegenüber Leuten wie Sabine ist groß, auch in der taz-Redaktion, auch bei mir. In politischen Talkshows wird hart diskutiert, in den sozialen Medien über die „Schwurbler“ und „Covidioten“ geschimpft. Die Impfgegner:innen wiederum verhöhnen die Mehrheit, die blind der Pharmalobby folge. Die Spaltung geht durch Freundeskreise und Familien. Ist bei privaten Begegnungen jemand nicht geimpft, steht schnell ein unangenehmes Schweigen im Raum. Weil man schon ahnt, dass ein Austausch schwierig würde und die Entfremdung offensichtlich.
Sabine und ich wollen versuchen, miteinander zu reden. Einmal, vielleicht auch mehrmals. Sie hat den Eindruck, dass Impfkritiker:innen in den Medien zu wenig Gehör finden. Ich wiederum habe Fragen: Sieht sie angesichts der vielen Ungeimpften auf den Intensivstationen nicht, dass die Entscheidung gegen das Impfen schwere Folgen hat für alle? Was meint sie, wie wir aus der Pandemie jemals herauskommen sollen, wenn nicht durchs Impfen? Ich möchte auch verstehen, wie sich der gesellschaftliche Druck auf Sabines Leben auswirkt. Was es im Alltag inzwischen heißt, ungeimpft zu sein.
Wir wissen beide nicht, ob das Gespräch entgleisen wird. Es steht keine Freundschaft auf dem Spiel. Wir sehen uns an diesem Tag zum ersten Mal, eine Bekannte hat den Kontakt vermittelt.
„Tragen wir weiter Maske oder nicht?“, frage ich. In Strickjacke und Jeans sitzt Sabine mir gegenüber. Die langen Haare hat sie hinten zusammengebunden. Sie lacht. „Ich habe keine Angst vor Corona“, sagt sie, ihretwegen könnten wir die Masken ruhig abnehmen. Wir duzen uns automatisch. Sabine heißt in Wirklichkeit anders. Weil Impfgegner:innen derzeit angefeindet werden, trägt sie in diesem Text einen anderen Namen.
Sabine wirkt umgänglich und freundlich. Sie redet ruhig, selbst wenn sie etwas empört. Dann zieht sie missbilligend die Augenbrauen zusammen. Zum Beispiel, wenn sie über 2G spricht. Wir hätten uns für das Gespräch nicht in einem Café treffen können, weil sie nicht mehr hinein darf. Das empfindet sie als Schikane. „Wir müssen draußen bleiben, als wären wir Hunde.“
Normalerweise geht Sabine regelmäßig ins Schwimmbad. Als Jugendliche hatte sie einen Autounfall beim Trampen, dabei hat sie sich den Rücken gebrochen. „Ich brauche das Schwimmen, sonst habe ich Schmerzen.“ Doch auch das Bad ist ab Mitte November nur noch mit Impfnachweis zugänglich. „Das ist für mich wirklich ein Verlust.“
Für 2G gibt es Gründe. Delta ist im November die verbreitete Coronavariante. Wenn Ungeimpfte weniger Kontakte haben, gibt es weniger schwere Verläufe, die Kliniken werden dann nicht so schnell überlastet. Geimpfte infizieren sich bei Delta zudem seltener und sind, wenn sie sich doch infizieren, kürzer ansteckend als Ungeimpfte, heißt es vom Robert Koch-Institut.
Sabine sagt, sie lasse sich immer testen, um Ansteckungen zu vermeiden. „Damit habe ich kein Problem.“ So aber fühlt sie sich ausgegrenzt. „Wir diskriminieren jetzt nicht mehr nach Hautfarbe oder nach Geschlecht, sondern nach Lebensentscheidung.“ Sich doch impfen zu lassen, um ins Restaurant oder ins Bad zu können, kommt für sie nicht in Frage. „Ich lasse mich nicht erpressen.“
Sabine hat ein gespaltenes Verhältnis zur herkömmlichen Medizin. Sie hatte früher mit einer chronischen Entzündung zu kämpfen. Antibiotika und Kortison halfen irgendwann nicht mehr, die Ärzte sagten ihr, sie sei austherapiert. Sie wandte sich an eine Homöopathin, danach ging es ihr besser, erzählt sie. „Ich kann das auch nicht erklären, aber ich bin total glücklich, dass ich seitdem wieder ein funktionierendes Immunsystem habe.“
Impfungen seien eine tolle Erfindung, sagt sie, doch immer auch ein Eingriff. Ihre Kinder hat sie gegen Masern impfen lassen, aber nicht gegen Mumps und Röteln. „Bisher war es immer möglich, dass ich selber einen Weg finden durfte.“
Dann kam Corona. Die Bilder aus Bergamo hätten sie getroffen, sagt Sabine. Die Lockdowns hielt sie für notwendig. „Ich dachte auch, dass ich mich wohl impfen lassen muss.“ Das änderte sich im vergangenen Jahr. Sie hatte im Sommer das Studium fertig und hörte Podcasts von Biologen und Medizinern aus den USA. Bei Youtube stieß sie auf ein Video über Ivermectin, ein Medikament, das normalerweise zur Behandlung von Krätze oder Würmern eingesetzt wird. Ivermectin helfe auch sehr gut bei Covid, hieß es in dem Video. Kurz darauf wurde es gelöscht.
Der Hype um Ivermectin
Tatsächlich gab es 2021 in den USA einen Hype um Ivermectin. Eine Gruppe von Ärzten pries das Medikament als Wunderwaffe gegen Corona, es wirke auch präventiv. Weder die WHO noch die amerikanische Gesundheitsbehörde bestätigen bis heute eine Wirksamkeit. Trotzdem besorgten sich viele US-Amerikaner das Arzneimittel und nahmen es, in Kliniken mussten Menschen wegen Vergiftungen behandelt werden.
Es gibt also Gründe, warum Beiträge über den angeblichen Nutzen des Medikaments gelöscht wurden. Sabine aber machte die „Zensur“, wie sie es nennt, misstrauisch. Sie suchte und fand weitere positive Berichte über Ivermectin, die kurz darauf entfernt wurden, und war bald überzeugt, dass Ivermectin hilft, aber diese Information unterdrückt werden soll. „Das ist auch total leicht zu erklären: Mit einem Medikament, das schon lange auf dem Markt ist, ist kein Geld zu machen.“
Sabine glaubt, dass es ein wirksames Medikament gibt, dass Politik und Wissenschaft dieses Mittel den Menschen aber vorenthalten, weil der Patentschutz längst abgelaufen ist und es – anders als die Impfung – keinen Profit bringt. Dass Biontech und Pfizer an der Impfung verdienen, stimmt. Aber glaubt Sabine wirklich, dass die Impfung allein aus Geschäftsgründen durchgesetzt wird? Die Pharma-Lobby sei stark, sagt sie, ihr erscheine das plausibel.
Sabine beschäftigte sich auch mit den mRNA-Impfstoffen, die sie sehr kritisch betrachtet: „Man kann das guten Gewissens eine Gentherapie nennen“, sagt sie. Gentherapie hieße, dass die DNA im Zellkern verändert würde. Das sei sehr unwahrscheinlich, heißt es dazu vom Paul-Ehrlich-Institut, dafür bestehe „kein erkennbares Risiko“. Sabine überzeugt das nicht. Sie sagt: „Das möchte ich mir erst mal ein paar Jahre angucken.“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
In der Gesellschaft ist Sabine mit dieser Haltung in der Minderheit. Sie muss sich gegen Kritik wappnen, vielleicht liest sie deshalb so viel zum Thema. Nicht nur in den gängigen Medien, auch auf Seiten wie dem Onlinemagazin Multipolar. Dort findet man Artikel darüber, dass die Medien hauptsächlich Regierungspropaganda lieferten oder dass die Zahl der Coronapatienten in den Krankenhäusern massiv übertrieben sei.
Auch in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis ist Sabine eine Ausnahme. Ihr Mann will sich wie sie nicht impfen lassen, ihre engsten Freunde sind jedoch geimpft. „Sie finden es legitim, dass ich es nicht möchte“, erzählt sie. Wenn sie sich treffen, testet sich Sabine vorher, selbst wenn die Freunde das nicht von ihr verlangen.
Es gibt auch andere Erlebnisse, etwa mit ihrer Nachbarin. Die Kinder sind im gleichen Alter, Sabine wurde sonst immer zu ihrem Geburtstag eingeladen. Dieses Jahr nicht. „Darf ich keine andere Meinung mehr haben? Das hat mich echt getroffen“, sagt sie.
Sabine hat traditionell die Grünen gewählt. Im September, als in Berlin Bundestag und Abgeordnetenhaus gewählt wurden, nicht mehr. „Das ging gar nicht. Die Grünen haben so gehetzt. Sie haben alle, die sich nicht impfen lassen wollen, als faul und dumm dargestellt.“ Es erschrecke sie, dass sie ihre Position bei Corona am ehesten von der AfD vertreten sehe, die würde sie nie wählen. Sabine verteilte ihre Stimmen schließlich auf Die Partei und die Linkspartei. „Was Sahra Wagenknecht sagt, kann ich zu hundert Prozent unterschreiben.“
Es ist kalt in dem Raum, in dem wir sitzen, ich muss niesen. „Ich könnte jetzt Angst haben, dass du irgendwas hast. Man darf ja nicht mal mehr husten, ohne dass der neben einem böse wird“, sagt Sabine. Sie glaubt, dass die Angst vor Corona die Gesellschaft verändert. „Das ist wie bei Kindern. Du kannst Kindern Angst machen, dann gehorchen sie eher. Aber langfristig hast du ein verängstigtes Kind.“
Sie verweist auf ein Papier des Innenministeriums vom März 2020. Tatsächlich formulierte die Bundesregierung darin, dass man den Menschen Angst machen müsse, damit Corona nicht verharmlost werde. Um „die gewünschte Schockwirkung zu erzielen“, solle die „Urangst“ des Erstickens bedient werden, heißt es unter anderem. Die taz hat damals über das Papier berichtet. Auch mich befremden solche Formulierungen, Angst ist kein gutes Mittel in der Politik. Ich wende aber ein, dass die Regierung zu Beginn der Pandemie nicht wusste, wie schlimm es noch werden würde.
Wir diskutieren auch über die Situation in den Kliniken. Die Mehrheit der Menschen auf den Intensivstationen ist ungeimpft, sie sind eine enorme Belastung für Pflegende und Ärzte, sage ich. Wichtige Behandlungen und Operationen werden ihretwegen verschoben. Wer sich nicht impfen lässt, gefährdet also nicht nur das eigene Leben. Wie kann sie das verantworten?, möchte ich wissen. Sabine bezweifelt die Statistiken, sie betont, dass auch viele Geimpfte auf den Intensivstationen liegen. Eine Überlastung habe es nicht gegeben, behauptet sie. Und wenn die Kliniken doch vor der Überlastung stünden, müsse man das Gesundheitssystem besser ausstatten, statt Betten abzubauen.
Es geht hin und her, bei diesem Thema wirkt Sabine auf mich etwas unsicherer als zuvor. Am Ende verweist sie auf sich selbst. „Ich bin nicht 70 Jahre alt, ich bin kein Raucher, ich habe keine Vorerkrankungen. Mein Risiko, auf der Intensivstation zu landen, ist nicht besonders hoch. Dann möchte ich bitte selbst entscheiden, ob ich mir eine neumodische Medizin spritzen lasse oder nicht.“ Sollte Corona sie erwischen, habe sie sich zur Sicherheit Ivermectin besorgt, das würde einen schlimmeren Verlauf verhindern.
Während des Gesprächs wird mir klar, dass sich die Fragen, die mich umtreiben, aus Sabines Sicht erübrigen. Für sie ist Corona eine große Panikmache. Sie geht davon aus, dass es längst ein Medikament gibt, mit dem schwere Verläufe und die Überlastung der Kliniken verhindert werden könnten. Deshalb wäre eine Impfung für sie auch kein Akt der Solidarität, wie viele Linke argumentieren. In ihren Augen könnte man Corona einfach laufen lassen, das wäre ihr Weg aus der Pandemie. Das Problem sind für sie die Politiker:innen, die den Interessen der Pharmalobby folgen, wie auch immer das genau aussehen mag, und die durch die Einschränkungen Druck machen auf Ungeimpfte wie sie.
Nach über zwei Stunden gehen wir an diesem Nachmittag auseinander. Wir haben uns nicht gestritten. Aber jede ist bei ihrem Standpunkt geblieben.
Eine Impfpflicht würde Frust erzeugen
Erst danach merke ich: Die Begegnung macht etwas mit mir. Als Ende November in Berlin 2G auch im Einzelhandel eingeführt wird, empfinde ich keine Genugtuung. Früher war der erste Gedanke: Pech für die Ungeimpften, sollen sie sich halt endlich impfen lassen. Nun muss ich an Sabine denken. Sie kann weder ins Schwimmbad noch ins Café und auch nicht mehr in einen Klamottenladen. Weil ich weiß, dass sie die Regelungen als kränkend empfindet, bleibt die Schadenfreude aus.
Am 30. November spricht sich Olaf Scholz, zu der Zeit noch designierter Bundeskanzler, erstmals für eine Impfpflicht für alle aus. Einerseits denke ich, dass es das vielleicht braucht, um Corona endlich in den Griff zu bekommen. Andererseits habe ich Sabine vor Augen. Ich kann ihr bei den Argumenten gegen die Impfung nicht folgen. Aber ich habe verstanden, dass sie ihr zutiefst widerstrebt. Sie will selbst bestimmen, was mit ihrem Körper passiert. Eine Impfpflicht würde Frust, Verzweiflung und Wut erzeugen. Nicht nur bei ihr, sondern auch bei vielen anderen, die die Impfung ablehnen. Ist es das wert?
Ich schreibe ihr eine Nachricht, „jetzt scheint es ja doch auf eine Impfpflicht hinauszulaufen“. Sie antwortet prompt. „Das warten wir mal ab. Da müssen ja so einige Gesetze ausgehebelt werden.“
Wir wollen uns im Dezember wieder verabreden, aber finden keinen Termin. Delta geht um in diesen Wochen, gleichzeitig wächst die Sorge vor der neuen Variante Omikron. Ich ergattere einen Termin für eine Boosterimpfung und freue mich.
Ich möchte mehr wissen über Ivermectin, das Medikament, auf das Sabine setzt, und telefoniere mit zwei Forscherinnen des Universitätsklinikums Würzburg. Die Biologin Stephanie Weibel und die Ärztin Maria Popp haben im Sommer die vorhandenen Studien zu Ivermectin ausgewertet. „Wir mussten viele Studien ausschließen, die nicht den Qualitätsstandards klinischer Forschung entsprachen“, sagt Popp. Mal habe es keine geeignete Vergleichsgruppe gegeben, mal seien die Patienten nicht per Zufallsprinzip in die Gruppen verteilt worden.
In den verbliebenen Daten fanden sie keine Hinweise darauf, dass Ivermectin den Zustand von Erkrankten verbessert oder die Zahl der Todesfälle reduziert. Mehrere neue Studien wurden seit dem Sommer publiziert. Weibel sagt: „Auch die gehen in die Richtung, dass Ivermectin keinen Effekt hat.“ Drei große Studien seien zudem in Arbeit, unter anderem von der Universität Oxford.
An einem Nachmittag Mitte Januar klappt es dann doch mit einem Treffen. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei 428, besonders viele Infektionen gibt es inzwischen in der Impfhochburg Bremen und in Berlin. Ich verabrede mich mit Sabine wieder in der taz. Sie trägt einen Rock und gemütliche Lederstiefel.
Sabine erzählt, dass sie wegen 2G an Weihnachten vor allem Socken und Mützen verschenkt habe, die gab es im Sortiment des Bio-Supermarktes. Dinge online zu bestellen lehnt sie ab. Weil sie nicht mehr schwimmen gehen kann, habe sie etwas zugenommen seit unserem letzten Treffen.
Ich frage sie, ob unser Gespräch auch bei ihr etwas ausgelöst habe. Sie sagt, es mache ihr Hoffnung, dass sich überhaupt noch jemand für die andere Seite und ihre Kritik am Impfen interessiere. „Die Aufgabe der Medien ist die Kontrolle der Macht. Ich finde, die kommt einfach zu kurz.“
Sie redet schneller als beim ersten Gespräch, auch ihr Ton ist schärfer. Das liegt vor allem an den Problemen, die ihre Kinder inzwischen wegen des Impfthemas haben. Die Jüngere steht vor dem Wechsel an die Oberschule, sie will sich an einer Schule in der Nähe bewerben. Beim Vorstellungsgespräch sind aber nur geimpfte Eltern zugelassen. „Ich lasse mich testen, ich bin nicht krank, das ist doch absurd“, sagt Sabine. Sie hat eine Freundin gefragt, ob sie die Tochter begleitet. „Aber welchen Einfluss hat das auf die Aufnahme?“ Ihre Tochter will wegen des Ärgers inzwischen nichts mehr von der Schule wissen. Dabei hatte ihr das Profil eigentlich gefallen.
Die große Tochter wiederum plant ein Auslandsjahr. Das Vorbereitungstreffen fand gerade statt, für Jugendliche ab 14 galt 2G, sie konnte nicht hin.
Es ist nicht in Ordnung, wenn Kinder darunter leiden, dass ihre Eltern gegen das Impfen sind. Sabines große Tochter wäre gerne geimpft, wie alle anderen in ihrer Klasse. „Sie ist total verzweifelt.“ Sabines Haltung erscheint mir hart. Sie könnte nachgeben, das will sie aber nicht. Sie sagt: „Das Risiko meiner Tochter, schwer zu erkranken, geht gegen null.“
Sie haben sich viel gestritten deshalb, man merkt, das macht auch Sabine zu schaffen. Inzwischen haben sie einen Kompromiss ausgehandelt. „Wenn es bis zum Sommer nicht vorbei ist, dann darf sie sich impfen lassen, aber mit einem anderen als diesen mRNA-Impfstoffen.“ Mit dem Mittel Novavax, das demnächst kommen soll, oder mit dem Totimpfstoff Valneva könnte sie eher leben, für ihre Tochter wie für sich selbst.
Ich frage Sabine, ob sie angesichts des gesellschaftlichen Drucks radikaler geworden ist in den vergangenen Monaten. Das Wort „radikal“ lehnt sie ab. „Ich bin ja kein gewalttätiger Mensch.“ Sie habe zu einer Demo gehen wollen, organisiert von Schauspielerinnen, aber die sei verboten worden. „Dabei hatten sie ein Hygienekonzept. Sie haben sich auch extra von rechts distanziert.“ Früher habe sie Berührungsängste mit Querdenkern gehabt, aber bei den Protestdemos seien gar nicht so viele Rechte, ist sie nun überzeugt. Die Medien würden das nur so darstellen.
Wir sprechen auch über die Impfpflicht. Sabine wirkt bei der Frage nicht so empört, wie ich es erwartet habe. Sie glaube nicht, dass die Impfpflicht komme, sagt sie. Die Antikörper ließen nach einer Impfung zu schnell wieder nach. Sie hoffe zudem auf Omikron. „Man kann ja schlecht eine Impfpflicht für einen Schnupfen durchsetzen“, sagt sie spöttisch.
Wir diskutieren wie beim letzten Mal über die Zahl der Ungeimpften in den Kliniken. Sabine sagt, die Daten seien manipuliert worden. Während wir sprechen, macht eine Meldung der Vereinigung der Intensiv- und Notfallmedizin Divi die Runde. Demnach sind fast zwei Drittel der Coronapatient:innen auf den Intensivstationen ungeimpft.
Ich erzähle ihr auch von meinem Gespräch mit den beiden Forscherinnen aus Würzburg über Ivermectin. Sie hört zu und entgegnet dann, große Studien würden eben von der Pharmaindustrie in Auftrag gegeben und die habe kein Interesse daran, deshalb fehlten aussagekräftige Daten. Ich weise darauf hin, dass auch neuere Untersuchungen zu Ivermectin keinen positiven Effekt belegen, und erzähle von den laufenden großen Studien, unter anderem der Uni Oxford. Sie fragt: „Und warum dauern diese Studien so lange?“
Am Beispiel Ivermectin wird deutlich, was uns grundlegend unterscheidet: Ich vertraue Wissenschaftler:innen wie Weibel und Popp und ihren Verfahren. Ich bin überzeugt: Wenn es ein Medikament gäbe, das wirkt, dann wäre es inzwischen längst anerkannt. Sabine wiederum sieht ökonomische Interessen am Werke.
Ebenso bei der Impfung. Ich vertraue auf das Zulassungsverfahren. Sabine nicht, sie fühlt sich von Wissenschaft, Politik und Medien getäuscht. Skeptisch gegenüber der herkömmlichen Medizin war sie schon vor Corona, im letzten Jahr ist daraus etwas viel Größeres geworden. Sie hat sich von den politischen Institutionen entfremdet.
Dieses tiefe Misstrauen wird bleiben, wenn die Pandemie vorbei ist. Bei Sabine, bei anderen Impfgegner:innen. Was aber heißt das für die Gesellschaft? Wie kann ein Zusammenleben dann funktionieren? Sabine sagt: „Ich wünsche mir, dass wir das aufarbeiten, die Spaltung, die Ausgrenzung. Sonst haben wir es bald wieder.“
Immerhin, sie spricht von „wir“.
Sie und ihr Mann denken auch übers Auswandern nach. Spanien würde ihnen gefallen, sagt Sabine, weil dort Gerichte 2G- und 3G-Regelungen gekippt haben. „Es ist nur nicht so einfach. Man kann ja nicht mal eben so gehen.“
Später, auf der Treppe nach unten, gibt es einen versöhnlichen Moment. Sabine seufzt. Sie sagt: „Das nervt. Hoffentlich geht das endlich vorbei.“ Dass Corona bald verschwinden möge, darauf können wir uns einigen.
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