wir lassen lesen: Fausto Coppi, der Papst und 20 Jahre Radrennsport
DER FLUG DES REIHERS
Ob Fausto Coppi ein guter Priester geworden wäre, weiß niemand. Sicher scheint, dass ihm in dieser Funktion wohl kaum jene Beachtung von Papst Pius XII. zuteil geworden wäre, welche dieser dem Radfahrer Coppi schenkte, als er ihm seine tiefe Besorgnis „über Hinweise in der Presse“, wie der maximale Pontifex die delikate Angelegenheit umschrieb, übermitteln ließ. Das war im Jahre des Herrn 1953, und der Campionissimo stand im Mittelpunkt eines gewaltigen Skandals.
Seine ihm vom Vater zugedachte kirchliche Karriere hatte die Großmutter verhindert, die früh erkannte, dass der schmächtige Jüngling zu anderem berufen war, auch wenn sie damals noch nicht ahnen konnte, dass es sich dabei ausgerechnet um ein wackliges Gefährt mit zwei Rädern handeln würde. Fausto Coppi wurde „zum besten Rennfahrer aller Zeiten“, wie es Konkurrent Louison Bobet formulierte, und als er den Papst in Schrecken versetzte, hatte er schon fünfmal den Giro d’Italia und zweimal die Tour de France gewonnen.
Eine ominöse Weiße Frau
Die Hinweise, die den obersten Vatikanbewohner in Unruhe stürzten, bezogen sich keineswegs auf das sportliche Wirken des Signore Coppi, sondern auf sein Privatleben. Die nicht lange zu verheimlichende Affäre des verheirateten Radprofis mit der 30-jährigen, ebenfalls verheirateten Giulia Locatelli, der ein Journalist das Etikett „Die Weiße Frau“ verpasste, hielt das Land in Atem. Ehebruch stand im streng katholischen Italien der 50er-Jahre unter Strafe, Coppi wurde zum Entsetzen der Radrennveranstalter Europas für längere Zeit der Pass entzogen, schließlich verurteilte ihn ein Gericht gar zu zwei Monaten Gefängnis, wenn auch auf Bewährung.
Heftig wurde der Fall im ganzen Land diskutiert und der große Coppi, dessen Karriere sich mit 35 Jahren langsam dem Ende zuneigte, bei seinen Rennen auf Italiens Straßen nicht mehr als Held gefeiert, sondern ausgepfiffen und beschimpft. Endgültig verzieh man ihm erst, nachdem er am 2. Januar 1960, gerade von einem Schaurennen im damaligen Obervolta zurückgekehrt, an einer von den Ärzten falsch diagnostizierten Malariaerkrankung gestorben war.
Die Aufsehen erregende Liebe zur „Weißen Frau“ ist durchaus Bestandteil des Buches „Fausto Coppi“ von Walter Lemke, in erster Linie handelt es sich jedoch um ein Radsportbuch. 666 Rennen hat „Il grande airone“ (Der große Reiher) bestritten und 118 Siege errungen. Unzählige Male ist Coppi vom Rad gefallen und hat sich fast jeden Knochen in seinem Körper irgendwann einmal gebrochen. Doch immer wieder rappelte er sich auf zu neuen Wundertaten. 119.000 Rennkilometer saß er im Sattel, und eine erkleckliche Anzahl davon sind auf den stolzen 670 Seiten des Buches beschrieben. Die Anfänge, als der Metzgergehilfe in seinem Heimatort Castellania die ersten Räder zu Schanden fuhr, der Durchbruch beim Giro 1940, als der 20-Jährige seinen Boss Gino Bartali einfach abhängte und der jüngste Fahrer wurde, der je die Italienrundfahrt gewann. Nach dem Krieg die knisternde Rivalität mit Bartali, die nicht nur Italiens Tifosi, sondern die Radsportfreunde in ganz Europa bewegte. Die großen Siege in einer Zeit, als zwar nicht ohne verbotene Hilfsmittel, aber noch ohne Epo gefahren wurde und auf manchen Bergetappen Zeitvorsprünge zustande kamen, die heute für drei Tour-Siege reichen würden. Schließlich der Versuch des alternden Champions, mit der nächsten Generation mitzuhalten und bei kleineren Rennen wie etwa beim „Großen Goggomobil-Preis“ auf der Berliner Avus noch ein wenig abzukassieren.
Etappe für Etappe beschreibt der Autor die Rundfahrten jener Zeit, und nicht umsonst trägt das Buch den Untertitel „20 Jahre internationaler Radrennsport“. Alle Champions der Coppi-Ära tauchen auf, von Bartali, Bobet, Kübler und Koblet bis Gaul, Bahamontes und Anquetil.
Erst Tiger, dann Cholera
Gleichzeitig beschreibt der Autor die zunehmende Professionalisierung des Radsports, die Querelen der Fahrer mit Funktionären wie Tour-Direktor Jacques Goddet, denen gegenüber Coppi kein Blatt vor den Mund nahm. Mit einem Tiger verglich Goddet den Italiener, als er ihn 1952 hinauf nach L’Alpe d’Huez stampfen sah, ein Jahr später verunglimpfte er ihn schon als „Cholera des internationalen Radsports“.
So liefert Walter Lemke nicht nur die Biografie eines legendären Sportlers, sondern die faszinierende Chronik zweier Radsportdekaden bis zu jenem Tag, an dem die berühmtesten Radprofis der Zeit Fausto Coppi in Castellania zu Grabe trugen und der Corriere della Sera voller Pathos schrieb: „Die Flügel des großen Reihers sind zur Ruhe gekommen.“ MATTI LIESKE
Walter Lemke: „Fausto Coppi“. Fuchs-Verlag, Miesbach 1999, 670 Seiten, 49,50 DM
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