türkei: Partei für Mini- rock und Kopftuch
In der Türkei gibt es eine neue politische Kraft. Unter dem Symbol einer Glühbirne ist eine muslimisch-demokratische Partei entstanden. Integrationsfigur ist der ehemalige Istanbuler Bürgermeister Tayyip Erdogan, ein Islamist, der im Gefängnis nicht radikaler, sondern gemäßigter geworden ist. Ergebnis: Derzeit ist er der populärste Politiker der Türkei, und aus den nächsten Wahlen könnte seine Partei als Siegerin hervorgehen.
Kommentarvon DILEK ZAPTCIOGLU
Die jüngeren türkischen Islamisten hatten allen Grund, sich von den alten Kadern der fundamentalistischen Bewegung um Necmettin Erbakan abzuspalten: Erstens ließ der alte Hodscha sie einfach nicht ran. Zweitens funktionierte Erbakans Sammlungskonzept nicht: die traditionellen Sekten und die zornigen Militanten auf der einen Seite, die religiösen, aufstrebenden Geschäftsleute Anatoliens und die unzufriedene Jugend der Großstadtvororte auf der anderen. Erdogans neue „weiße Partei“ wird nun zur Hoffnung der konservativ-religiösen Kreise, die nicht unbedingt die Einführung der Scharia im Sinn haben.
Erdogan und seine Freunde haben fast alle denselben Hintergrund. Sie stammen aus anatolischen patriarchalischen, sozial aufgestiegenen Familien. Wegen des „Geruchs der Erde“, der an ihnen haftet, rümpfen die verwestlichten Eliten in Istanbul die Nase über sie. Kopftuch? Wie rückständig! Sieben Kinder? Wie banal. Aus Mittelanatolien? Wie provinziell! Dieses elitäre Verhalten der Hauptstädter hat die Gründung der neuen Partei provoziert – ihre Führungsschicht will endlich Anerkennung.
Hinzu kommt die Selbstzerstörung der anderen Parteien durch Korruption und Klientelwirtschaft. Und während die anderen Politiker zwangsläufig die Krisenprogramme des Internationalen Währungsfonds ausführen, tönt Erdogan, er werde „das Land nicht verkaufen“.
Doch rätselhaft ist, wie er für Globalisierung, Marktwirtschaft und die EU eintreten und zugleich die Globalisierungsverlierer vertreten wird. Wie will er die Laizisten und die Armee davon überzeugen, dass „Minirock und Kopftuch“ versöhnbar sind? Wie will er das Istanbuler Kapital zu sich ziehen, wo er doch von dessen anatolischer Konkurrenz getragen wird? Ein letztes Handicap: sein ungezügeltes „männliches Temperament“, das ihm wegen unüberlegter Zornesausbrüche viel Ärger einbrachte. Obwohl die Neugründung für viele Demokraten attraktiv ist – der irrationale Faktor bleibt der türkischen Politik erhalten.
ausland SEITE 9
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