themenläden und andere clubs: Entsetzen sucht Lachen: Wie Betroffenheit in die richtigen Bahnen gelenkt wird
Alle Menschen sind Menschen
Normalerweise bekomme ich nur Anrufe, dass ich den Fernseher ausmachen soll. Vom Nachbarn, einem lärmempfindlichen Techno-Fan. Heute ist es anders, ganz anders: „Schalt mal den Fernseher ein“, sagt die Freundin am Telefon, „in Amerika ist Krieg . . .“ Krieg. In Amerika. Quatsch.
Den Fernseher schalte ich trotzdem ein: Spielt nicht Freiburg heute in der Walachei? Kommt kein Freiburg – ich bin das erste Mal betroffen. Stattdessen läuft „Independence Day“: Schöne Bilder. Dazwischen Ulrich Wickert. Er stottert und sieht mit seiner Brille aus wie ein müder trauriger alter Hase. Dann wieder dieselben Bilder, keine schönen Bilder – sie sind echt, wie die gestotterten Kommentare. Jetzt wäre es mal an der Zeit, Emotionen zu haben. Ich bereite mich darauf vor: Emotion, Emotion, Emotion, Betroffenheit . . .
Klappt nicht so recht – Scheißmedium: Die Bilder kommen aus derselben Kiste wie die hungernden Kinder, wie Freiburg in der Walachei, wie diese ganzen amerikanischen Krachfilme. Immer wieder dieselben Bilder. Mal stottert Wickert, mal Deppendorf dazu.
Die Gehirnwäsche wirkt – ja, ich hab’s begriffen, ich bin traurig, ich bin beunruhigt. Die Unruhe wächst mit den ersten Kommentaren: Gibt zwar noch keinen Bekenner, aber man weiß eh, wer’s war – die unzivilisierte Welt. Ein Eichel grenzt sich und uns schon mal ab – von denen, die immer so laut schreien, die nach komischem Essen riechen und ein bisschen dunkel geraten sind. Kommt einigen ganz recht, möchte man fast meinen. Einem bestimmt: Seine Stimme ist fest. Er spricht von Gott, von Demokratie und Zivilisation. Dann spricht er sofort von Rache. Er hat Schmeißfliegen im Kopf. Diese Person zu diesem Zeitpunkt auf diesem Posten – ja, das macht mir richtig Angst: Der Boss des betroffenen Landes – warum weint er nicht? Ich zappe die Sender durch – überall dieselben Bilder: War wohl keine Satiresendung, leider, das Stottern ist echt. Doch da, im Kinderkanal – normales Programm. Man hält die kleinen Kinder von der Wahrheit fern, wie auch auf MTV die großen Kinder.
Am Abend bei meinem Vorlesezirkel: Die Veranstaltung findet statt – warum nicht uns, warum nicht andere, die das wollen, mal zwei Stunden ablenken? Wenige wollen das und jemand witzelt, dass wir dadurch irgendwie auch zu den Betroffenen gehören. Folglich ein Alibi haben. Ein Kollege hat keines – er ist in New York. Sonst werden wenig Witze gemacht – Entsetzen sucht Lachen. Es bleibt ein ruhiger Abend – die Kollegen wirken niedergeschlagen, mit Abstrichen vielleicht nur S.: „Der Scharping war’s mit seiner Flugbereitschaft – der will bloß von seiner Affäre ablenken!“ Das glaube ich nicht. Frühmorgens zu Hause bei der Fußball-Aufzeichnung weint auch Uli Potofski im schwarzen Anzug Krokodilstränen: Schalke hätte nicht spielen dürfen. Er wolle das eigentlich gar nicht kommentieren.
„Die Schalker Spieler haben doch jetzt bestimmt anderes im Kopf.“ Nein, haben sie nicht: Die Spieler Böhme und Möller chargieren im Interview Betroffenheit. Das Medienereignis Katastrophe steckt hier noch immer in den Kinderschuhen. Doch eine Satiresendung? Entsetzen findet Lachen. Nach dem Spiel hat Manager Assauer endlich eine gute Idee: „Das hat die Athener Gegner genauso betroffen – das sind auch Menschen.“
Obwohl sie ein bisschen zu dunkel geraten sind . . . Der erste Griff am nächsten Tag gilt gleich der Fernbedienung: Trauergottesdienst mit Erzbischof Sterzinsky. Er bete, dass nicht noch mehr Gewalt folgen möge – „auf jeden Fall nicht gegen Unschuldige“ – ein braver Christ. Zum Abendmahl dann Wein und Täter-Spekulatius: Keiner der Täter dürfe sich auf seine Religion berufen.
Aha – der weiß auch schon, wer’s war – den sollte man mal verhören. Später verdichten sich Anzeichen, die in Richtung der Vorverurteilungen weisen: Aus den entführten Maschinen habe man Entsprechendes per Handy berichtet.
ULI HANNEMANN
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen