taz.berlin-Adventskalender (8): Glassplitter im Stollenteig
Dresdner Stollen müsse es schon sein, den kenne sie noch aus ihrer Kindheit, verrät die Seniorin mit Rollator. Und kommt dann ins Erzählen.
Vorweihnachtshektik, unter coronabedingten Masken noch anonymer, Begegnungen finden in Eile und mit Sicherheitsabstand statt. Und dann öffnet sich plötzlich doch manchmal eine Tür: eine freundliche Geste, eine Hilfeleistung, ein Gespräch. Die taz.berlin berichtet in ihrem Adventskalender 2021 von solchen Türchen, die die Anonymität einen Moment vergessen lassen.
Als ich vom Einkaufen komme, treffe ich an der Straßenecke auf eine Frau, die gerade ihren Rollator etwas umständlich die Bürgersteigkante hinaufhievt. Auf dem Rollator balanciert sie sieben Kartons mit Dresdner Stollen, die Kartons schwanken leicht. Die Frau zieht die Bremsen am Rollator an und stabilisiert die Stollen mit ein paar Handgriffen. Dunkle fette Rosinen und eine dicke Puderzuckerschicht sind auf der rot-goldenen Verpackung zu erkennen.
„Sind die für Ihre Weihnachtspäckchen?“, rutscht es mir heraus. Ja, sie habe eine ganze Reihe an Lieben zu versorgen, sagt sie. Und Dresdner Stollen müsse es schon sein, den kenne sie noch aus ihrer Kindheit.
Die Kartons mit den Stollen rutschen auf dem Rollator etwas nach vorn, sie schiebt sie wieder in Position. Dann erzählt sie, dass sie in Dresden mit den Zutaten zu den Bäckern gegangen seien, die daraus den Teig gerührt und die Stollen gebacken hätten. „Alles streng überwacht von der Großmutter“, sagt sie – und natürlich nach deren Rezept.
„Wenn sie nicht dabei war, hat sie mir eingeschärft, ich soll unbedingt darauf achten, dass der Bäcker unsere Namensschilder in die richtigen Stollen steckt, damit da nichts vertauscht wird“, erinnert sie sich. Solche Schilder habe der Bäcker vor dem Backen mit Zahnstochern in die Stollen gepikst.
„Einmal hat eine Frau ein Glas mit gestifteten Mandeln über die Rührschüssel gehalten, sie wollte sie gerade zufügen. Dann kam der elektrische Rührarm – und zack – war das Glas kaputt“, erinnert sie sich. Den ganzen Teig hätten sie in den Müll tun müssen. Glasscherben statt Mandelsplitter. „Das war vernünftig nicht mehr zu retten.“
Kurz halten wir beide inne und trauern dem weggeworfenen Stollenteig nach. Ich erzähle, wie ich im Radio davon gehört habe, dass sie im Hungerwinter 1946/47 die Stollen fast nur aus geriebenen Kartoffeln und Mehl gemacht haben. Mit Kartoffelmarzipan aus geriebenen und gemusten Kartoffeln und etwas Aroma. Und auch das konnten sich nur die Gutbetuchten leisten. „Ja, früher haben wir ja auch aus Molke Sahne geschlagen“, sagt sie.
Die Kartons auf dem Rollator drohen schon wieder zu verrutschen. Ich helfe ihr, sie noch mal stabil auszurichten, ein Handtuch darunter dient als Bremse. Als wir uns verabschieden, guckt sie mich kurz konspirativ an und verrät mir, wo sie die Stollen erstanden hat. Na klar: mit dringender Kaufempfehlung.
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