taz zwei auf Klausur in Brandenburg: Die Dialektik des Chaos
Beim Geschirreinräumen entstehen Konflikte. Die Älteren sehnen sich nach Ordnung, während die Jüngeren jede vorhandene Leerstelle mit Chaos füllen.
Kürzlich war ich mit meinem Ressort zwei Tage auf Klausur in Brandenburg. In einem schönen Haus am Dorfrand wollten wir neue Ideen entwickeln und alte vertiefen; und soweit ich das beurteilen muss, hat das hervorragend geklappt. Bei so einer Veranstaltung geht es auch ums Essen, Trinken, Rauchen, Kochen und Saubermachen – um das Miteinander eben; und da ist es gut, wenn es einen Antagonisten gibt, gegen den sich die Gruppe positionieren kann, um sich so ihrer gerade anwachsenden Zusammengehörigkeit zu versichern, die sich im beruflichen Kontext ja keineswegs von selbst versteht.
Unser Gegner war der Vermieter des Häuschens, der uns nicht nur eine kaputte Spülmaschine überließ – aber zusammen handspülen und abtrocknen kann so teambildend sein! –, sondern auch jeweils Fotos in die Küchenschränke geklebt hatte, um so deren korrekte Befüllung nach erfolgter Reinigung des Geschirrs und der Kochutensilien sicherzustellen. Meine Kollegas konnten sich gar nicht genug beeumeln über die zwangsneurotische Bebilderungsorgie des Häuslebesitzers.
Und ich? Tja, ich lächelte. Nicht dass in meiner Wohnung auch solche irren Bilder kleben würden! Aber klar habe ich mich schon geärgert, wenn wir nach einem Ferien-Wohnungstausch zurückkamen und der Mixer unauffindbar war, weil eben falsch abgelegt!! Auch meine Kinder sind im Einräumen nicht immer korrekt!!!
Leerstellen mit Chaos füllen
Ich bin im Kollegium der mit Abstand Älteste, und ich konnte mich den inneren Nöten unseres Vermieters einfach nicht völlig entziehen. Es geschieht nämlich uns beiden das, was Horkheimer/Adorno (H/A) in einem Abschnitt ihrer „Dialektik der Aufklärung“ als „Anzeichen von Dekomposition“ des reiferen Menschen bezeichnen: „Unter den gegebenen Verhältnissen führt der Vollzug der bloßen Existenz bei Erhaltung einzelner Fertigkeiten, technischer oder intellektueller, schon im Mannesalter zum Kretinismus“, schreiben sie, und: „Es ist, als ob die Menschen zur Strafe dafür, daß sie die Hoffnungen ihrer Jugend verraten haben und sich in der Welt einleben, mit frühzeitigem Verfall geschlagen würden.“
Immer wenn ich der Jugend begegne – und das tue ich täglich im Familien- und Arbeitsumfeld –, dann spüre ich diese „Inferiorität der Erwachsenen“ (H/A), also im konkreten Fall: meine Inferiorität. Der einzige Witz, den ich darin entdecken kann, ist, dass es vor allem das Bevatern, Bekochen, Bespaßen meiner Kindlein ist, der Haushalt und das Hinterherräumen eben, was mich als Mensch, siehe oben, dekompostiert. Wenn ich intellektuell tätig sein darf, erhole ich mich meist.
Mein Verständnis für unseren Vermieter – mal davon abgesehen, dass er als Cleverle schlicht ein von den Gästen selbst perfekt aufgeräumtes Gästehaus haben möchte – hat damit zu tun, dass junge Menschen jede Leerstelle, die man ihnen lässt, mit Chaos füllen: was auch exakt ihre Aufgabe als junge Menschen ist.
Leser*innenkommentare
Ambros Waibel
taz2-Redakteur, Autor des Artikels