taz-adventskalender „24 stunden“ (19): 19 Uhr in der Videothek
Das Videodrom kämpft seit Jahren gegen die Streaming und ausbleibende Einnahmen. Zu Besuch in einer Videothek, die dem Kommerz trotzt.
Stressig und chillig, hässlich und schön, herzerwärmend und abstoßend: Berlin hat viele Seiten, rund um die Uhr. In diesem Advent hangeln wir uns durch 24 Stunden Hauptstadtleben und verstecken jeden Tag aufs Neue 60 Minuten Berlin hinter unserem taz-berlin-Kalendertürchen. Heute: ab 19 Uhr im Videodrom in Kreuzberg.
Nicht alle Widerstandskämpfer heißen Asterix und tragen einen Flügelhelm. Manchmal haben sie auch eine Vorliebe für Hawaiihemden und betreiben eine hauptberuflich eine der letzten Videotheken in Berlin. Die Rede ist von Karsten Rodemann, dem Inhaber des Videodroms im Bergmannkiez. „Gallierdorf“ nennt Rodemann seine Programmvideothek als letzte Bastion gegen Streaming und Kommerz.
An einem verregneten Dezembertag steht Rodemanns Partnerin Christine Pursch hinter dem Tresen. 19 Uhr ist eigentlich Prime Time, aber an diesem Abend geht die Tür nur vereinzelt auf. Dann kommen nassgeregnete Gestalten in den kleinen Raum, wischen sich die Brillen sauber und holen eine DVD-Hülle zur Rückgabe hervor. „Ich hoffe, sie ist trocken geblieben“, sagt ein Kunde.
Später wird Pursch die DVD in den Bestand einsortieren. Zwei kleine Räume, die beinahe aus allen Nähten platzen. Über 40.000 Filme stehen in den Regalen des kleinen Ladenlokals – von brandneuen Blockbustern bis zu dem ältesten Film der Filmgeschichte aus dem Jahr 1895. Dieses Sortiment beschert dem Videodrom die Bezeichnung „größte Programmvideothek Deutschlands“.
Doch das Videodrom bleibt trotz Kultstatus nicht vom generellen Schicksal der Videotheken verschont. Während Streaming Volkssport ist, schrumpfte die Zahl der Videotheken in Deutschland 2024 auf unter 50. 2008 waren es noch zehnmal so viele. Auch die finanzielle Situation des Videodroms ist angespannt. „Wenn wir nicht so treue und wunderbare Kund:innen hätten, die uns immer wieder Geld und Filme spenden, gäbe es uns schon lange nicht mehr“, sagt Pursch. Also machen sie weiter, nach dem Motto: der Widerstand bleibt.
Liebe fürs Detail
Über jeden Film, der hier über die Theke geht, wissen sie eine kleine Anekdoten zu erzählen: mal witzige Geschichten über die Filmproduktion, mal schrullige Details über das Leben der Regisseure. Genau diese Hingabe schätzen die Kund:innen. So ist es nicht verwunderlich, dass einige seit der Eröffnung 1984 jeden Tag den Weg durch die steile Friesenstraße im Bergmannkiez zu ihnen finden.
Neben älteren Stammkund:innen, gibt es zunehmend auch jüngere, die sich an Netflix sattgesehen haben und statt auf Algorithmus lieber auf kundige Empfehlungen setzen. Viele der DVDs in den Regalen des Videodrom sind mit persönlichen Notizzetteln versehen. „Haufen empfiehlt“, ist da beispielsweise zu lesen.
„Haufen“ – das ist Karsten Rodemanns Pseudonym, genauer gesagt „Graf Haufen“. „Der Name war ein pubertärer Einfall“, erzählt der selbsternannte Graf grinsend. Maßgeblich dadurch entstanden, dass sich „Kassetten kaufen“ auf „Haufen“ reimt. Seine Mutter ist die einzige, die auch mal Häufchen sagen darf.
Underground und Abseitiges
Immer wieder suchen Haufen und Christine Pursch nach neuen Schätzen für das Videodrom – wie „Trüffelschweine“, sagt sie. Bei der Auswahl geht es ihnen nicht darum, einfach nur Novitäten anzubieten, sondern auch um „Underground“ und Abseitiges des Kinos. Man versteht sich auch als Filmarchiv, als Gegenentwurf zu schnelllebigen und flüchtigen Streaming-Inhalten. „Wir beschaffen viele Filme, die sonst verschwinden würden“, sagt Pursch.
Würden sie das Videodrom aus unternehmerischen Gründen führen, so wäre der Laden wohl längst geschlossen. Doch bereits beim ersten Schritt ins Videodrom ist klar: Ein kommerzieller Ort ist das hier nicht. Auf der Website heißt es dementsprechend „Denn mit guten, auch ungewöhnlichen Filmen wird man nie reich. Höchstens berühmt …“ Doch mit einem Seufzer sagt Pursch: „Wir träumen insgeheim von einem großzügigen Mäzen, mit dessen finanzieller Unterstützung der Fortbestand des Videodroms gesichert wäre.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene