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taz-Sommerserie „Berlin geht baden“ (6)Kindheit, Chlor, Klasse

Zwischen Pommes und Sprungbrett ist das Freibad ein Ort gelebter Utopie. Es ist ein Stück Sommer, das immer auch verloren zu gehen droht. Ein Essay.

Das Becken im Außenbereich des Kombibads Gropiusstadt. Dass sich Hochhäuser im Wasser spiegeln, war so nicht vorgesehen Foto: Fabian Sommer / dpa

BERLIN taz | Wenn das Wasser ganz still ist, spiegeln sich darin die Hochhäuser. Eine gleißende Umarmung aus Chlor, Wasser und Beton, die zerplatzt, sobald ein Kind einen Doppelsalto macht – oder eine Arschbombe. Im Kombibad Gropiusstadt gibt es zwar Gesetze, doch keine Garantien.

„Um sieben war das?“ Ali schaut Ines an. „Oder halb acht?“ „Um sieben!“ Ines, kurzes Haar, Blumen auf dem Badeanzug und auf dem Handtuch. Lindenblüten rieseln auf die Handtücher, bleiben dort liegen wie aufgeplatztes Popcorn. Sie und Ali haben mittlerweile Liegestühle, sie kommen seit Jahrzehnten her. „Um sieben. Kurz bevor das Bad zumachte. Da wurden wir beim Bademeister gesammelt, bekamen eine Mülltüte, und los ging’s.“ Ines nickt, bestätigend. Ein Nicken wie ein Schulterklopfen. Nostalgische Erinnerung: Die Kinder haben alles aufgeräumt! „Und wenn man fertig war, hat man den Müll zum Imbiss gebracht“, führt Ali fort. „Dann gab’s eine Freikarte für den nächsten Tag.“

In den Entwürfen der Gropiusstadt war nicht vorgesehen, dass sich Hochhäuser im Wasser spiegeln. Architekt Walter Gropius, hatte drei- bis vierstöckige Häuser geplant, pompöse Grünflächen wie die Azoren im Atlantik. Es sollte ein Bezirk ohne rauchende Schornsteine werden, wo „Fußgänger ihr ganzes Recht“ bekämen. Doch es fehlte ein verbindlicher Gesamtplan, und das führte zu einer Zersplitterung der Planungsinstanzen, es gab keine klaren Entscheidungsträger, es mangelte an Kommunikation. Mit der Berliner Mauer kam dann noch Platznot dazu. Die Häuser wurden nach oben statt in die Fläche gebaut. 30 Stockwerke in den Himmel.

Doch die Idee eines Kombibads hat überlebt. Es wurde zu einem Naherholungsgebiet zwischen Erdbeerfeldern und Hochhäusern. Eine knallbunte Oase, die schon als „Ersatz zum Neckermannurlaub“ hergehalten hat, Freilichtmuseum der Anime- und Disneywelt.

Berlin kann im Sommer unerträglich heiß werden. Zu den Oasen, in denen man der Klimakrise tem­porär ent­­kommt, gehören die Frei- und Sommer­bäder. Sie sind Kindheits­erinnerung, Begegnungsort, Spiegelbild von Nazi- und Teilungs­vergangenheit. In unserer Sommer­serie tauchen wir in die verschiedenen Becken und Seen der Stadt.

Freikarte manchmal mit Ketchup-Toast

Als der Betreiber 1975 am Eingang Gummibärchen verkauft, berühren die Kinder gerade so mit den Nasenspitzen die Kronen der Kiefern. Nicht, weil sie hinaufklettern, sondern weil die schlafenden Giganten selbst noch so klein sind. „Und manchmal“ sagt Ali, „gab es zur Freikarte noch ein Toastbrot mit Ketchup.“ Das Zwinkern im Gesicht. Geschmäcker der Kindheit. „Oder Schrippe mit Schokokuss“, ergänzt Ines.

In einer sich rasend verändernden Gegenwart, in Debatten um Krieg, Flexibilisierung, Klima, Armut – ist das Kombibad Gropiusstadt da womöglich einer der letzten Orte transgenerationaler Allgemeingültigkeit? Jahr um Jahr die gleichen Abläufe: Du bibberst. Im Meer der Handtuchinseln hast du deine Mutter verloren. Du rennst, Füße nach vorne, Kopf nach hinten. Knallst gegen Beine. Du schläfst. Sonnenschlaf, glitschig und tief.

Ein Junge im Stimmbruch rauscht vorbei, hundert Prozent mehr Dezibel als die Trillerpfeife des Bademeisters. Kämpfe mit Wespen, deren Schicksal immer schlimmer ist als deins. Auge in Auge, mit Freun­d:in­nen Köpfe unter Handtüchern, Strategieplanung auf Gänseblümchen.

Sätze wie: „Warum sind die Pommer so heiß?“, „Alter, hast du den Pfiff nicht gehört?“ oder der Klassiker: „Ja klar, ist Ketchup.“ Väter und Söhne auf Picknickdecken, verknotete Ellbogen und Knie. Zeichen einer Zeit, die so zart ist, dass alle sie auf ewig vermissen werden. In der gleißenden Sonne auf der Liegewiese zwischen Sonnenhüten, Beatmungsgeräten, Pikachu-Handtüchern und knallroten Rücken ist die Frage nie: Hast du Geld? Die Frage ist: Hast du Schwimmflügel, auf denen Intex steht oder welche mit Spiderman?

Blitzschnelle Kinder

Durdu stellt ihre leere Tasse Chai neben die Süßigkeiten für die Enkel. Der Löffel klirrt im Glas. „Na Mama, hast du wieder wen zum Reden gefunden?“ Durdu ist mit ihrer Tochter da. Eine Sekunde später eilt diese ihrem eigenen Kind hinterher, das gefährlich wankt – eine Mischung aus einstürzendem Jenga Turm und sprintendem Igel.

Verschollen gehen im Freibad, noch so ein Evergreen. Durdu hat mal ihren Enkel verloren. Sie wirft die Augen zur Stirn, als sie erzählt, wie alle es tun, wenn von großer Gefahr gesprochen wird: „Ich hab nur gesagt, wir müssen uns anziehen und los. Kaum dreh ich mich um, ist er weg.“ Kinder sind schnell. Auf mysteriöse Weise klettert ihre Geschwindigkeit im Freibad auf Blitzgeschwindigkeit hoch, ein Sommergewitter, vor dem sich alle fürchten. Wie gepeitschter Regen fliegen sie über Zaungrenzen hinweg, an mehrspurigen Straßen vorbei, über Ampeln, zum Lidl-Parkplatz. Dann werden sie zurückgebracht, weil „alle ein Auge aufeinander haben.“

Wären die Füße der Kinder mit Farbe bemalt, würden sich Genealogien der Bekanntschaft im Gras abzeichnen. Kunstwerke aus Zick-Zack-Kurven und Unendlichkeitszeichen. Wer kennt wen, wer liegt wo, wer braucht was? Die Wiese beherbergt Familien, erweiterte Familien, Wahl-Familien, Als-ob-Familien, Wohngruppenleitende, Nachbar:innen, Freundeskreise. Lieben oder hassen, und manchmal nur grüßen. Oft getauscht: Wassermelone, Sonnenblumenkerne, Schwimmreifen, Tagesaktualitäten. Soundtrack dieser Tage: „HAHA“ von Charlotte Adigery. Dröhnendes Geplauder, klatschende Handflächen auf Plastikbälle und Wasser. Dazwischen Mischungen aus Lach-Stakkato und Geheule.

Der Sommer ist wie eine glitzernde Flosse des Regenbogenfisches. Er gehört allen. Nur wo sich der Sommer abspielt, ist begrenzt. Berlins Bäder gehören seit 1996 den Berliner Bäder Betrieben, der Senatsverwaltung für Inneres und Sport unterstellt. Seither wird Chlor in Sammelbestellungen geordert. Anders als in anderen Städten sind die Wasserflächen in Berlin für Vereine und Schulen kostenlos. Seit diesem Jahr gibt es jeden Tag Sport im Kombibad, dafür wurde extra gebaut. Schwitzen auf blauem Gummigranulat, Bewegung als Regulation. Auch für Geringverdienende oder Bürgergeldempfangende gibt es Ermäßigungen. Doch wenn man von der gelben Rutsche im Kombibad auf die Hochhäuser schaut, wird es Kinder geben, die hinter den Fenstern zurückschauen.

Parken jetzt für 1,50 die Stunde

Ermäßigungen sind wie Tinte auf einem Blatt Papier, das ins Wasser fällt. Sie lösen sich innerhalb kurzer Zeit auf. Bevor sich Menschen auf dem Amt beschämen lassen oder gegen Anträge kämpfen, die undurchschaubar sind wie Milchglas, wird womöglich lieber ein Planschbecken im Hof aufgestellt. Kinder sind abhängig von Eltern, von anonymen Institutionen und einem unternehmerischen Staat. Öffentliches Schwimmen bleibt ein exklusives Vergnügen, zu dem man nur mit Geld, Selbstbewusstsein und Lichtbildausweis Zugang bekommt.

„Currywurst mit Pommes, zehn Euro!“ Eine Clique sonnenverwöhnter Männer auf der Liegewiese. „Im Angebot. Da weiß man nicht, wo der Hammer hängt!“ Sie sind Stammkunden. Auch schon, als die Bäume noch Zwerge waren. Als das Parken gar nichts kostete, dann drei Euro am Tag und jetzt, wo es vom Unternehmen MobilityHub betrieben wird, ein Euro fünfzig die Stunde. „Ich habe einen Schwerbehindertenausweis“, sagt einer. „Die Gebühren werden mir trotzdem nicht erlassen.“ Er habe E-Mails geschrieben, doch keine Reaktion. MobilityHub stand schon häufiger in der Kritik. Nicht, weil Parkdienstleister ohnehin immer von allen gehasst werden, sondern wegen versteckter Kosten und unerreichbarem Kundenservice. Parken kann heute nur, wer Handy und App-Verständnis besitzt.

Die Inflation betrug 2022 und 2023 etwa sechs bis acht Prozent, wodurch die Reallöhne inflationsbereinigt in diesen Jahren nur minimal stiegen oder sogar sanken. Durdu ist Bäckereifachverkäuferin, sie berichtet, dass manche Bäckereien nicht mehr als acht Euro die Stunde zahlen – trotz Mindestlohns von derzeit 12,82 Euro. „Wer soll sich davon irgendwas leisten können?“, fragt sie. Es ist nicht nur das Leben in Armut, das belastet. Es ist die Angst, ärmer zu werden, Orte zu verlieren, Freundschaften. Es ist die Unsicherheit, die Armut belastend macht.

Doch alle sollen sich sicher fühlen, das ist dem Senat wichtig. Deswegen kooperieren die Berliner Bäder seit 2014 mit externen Sicherheitsunternehmen. Immer akzeptierter wird das Präventionsparadigma, das Sicherheit zur Dienstleistung macht. Seit 2010 verzeichnet die Sicherheitsbranche 37 Prozent mehr Beschäftigte, 2023 wurde 13,4 Milliarden Euro Umsatz gemacht. Das sind 12,6 Prozent mehr als im Vorjahr.

Geld umverteilen als bessere Prävention

„Aber was soll sie machen, wenn sich hier jetzt gekloppt wird?“ Der sonnengebräunte Herr zeigt auf eine junge Person mit T-Shirt des Sicherheitsunternehmens WeWatch. Sie schlendert über die Wiese, kein Einsatz, alles ist ruhig. Was soll sie schon machen? Wo werden die Mitarbeitenden wohl eingesetzt, wenn der Außenbereich am Ende der Sommerferien schließt? Wer von ihnen kommt wieder? Wer kennt den Ort, wer kennt wen? Sicherheit durch Solidarität, nicht als Service oder Strafe, Prävention durch Umverteilung von Geld, freie Freizeitbeschäftigungen, das Freibad als Ort gelebter Utopien.

Klassenlosigkeit und diverse Körper – davon weiterträumen im glitschigen Schlaf unter der heißer werdenden Sonne. Weiter fordern, wenn die Blätter gelb werden wie die Mayo im Gras.

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