piwik no script img

taz-Serie Gut vorankommenFreie Fahrt für Tallinns Bürger

Seit vier Jahren dürfen Tallinns Einwohner kostenlos mit Bus und Bahn fahren. Der Autoverkehr hat trotzdem kaum abgenommen.

Schwarzfahren unnötig: Bus in Tallinn Foto: dpa

Stockholm taz | Estlands Hauptstadt ist die Pionierin: Anfang 2013 hat Tallinn als erste in Europa die kostenlose Benutzung der öffentlichen kommunalen Verkehrsmittel eingeführt. Vier Jahre danach zeigen Umfragen unter den Tallinnern Zustimmungsraten zu dem damaligen Beschluss von mehr als 90 Prozent. Die Auslastung der Busse und Straßenbahnen ist wie erwartet um rund 10 Prozent gestiegen. Vor Beginn der Gratis-Ära hatten immer weniger Menschen die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt, die jahrelang vernachlässigt worden waren.

Andererseits hat der individuelle Autoverkehr kaum abgenommen. Zum einen weil man sich nicht traute, ihn unattraktiver zu machen, etwa indem der Parkraum in der Innenstadt spürbar begrenzt und verteuert wird. Zum anderen ist die Anbindung vieler Neubauvororte ans öffentliche Verkehrssystem noch so wenig zufrieden stellend, dass viele das Umsteigen vom eigenen fahrbaren Untersatz nicht wirklich lockt.

Das soll sich nach und nach ändern. Seit einigen Monaten gilt der Gratisverkehr auch zwischen den im Stadtgebiet liegenden Bahnhöfen der estnischen Staatsbahn. Eine Flotte moderner neuer Busse ist bestellt, und Ende 2017 soll eine bis zum Flughafen verlängerte Tramlinie den Betrieb aufnehmen. Viel Nachholbedarf besteht auch noch bei der Fahrradinfrastruktur. Nur ein Prozent der Pendler benutzt das Rad für den Weg zur Arbeit. Ende Oktober wurde immerhin ein erstes aus 10 Ausleihstationen bestehendes System mit Leihrädern eingeweiht.

Aber es sei beim Gratiskollektivverkehr ja auch nicht nur um die Umwelt gegangen, betont man bei der vom linksliberalen Zentrum geführten Stadtregierung. Wichtig sei auch der soziale Aspekt. Die kostenlosen Straßenbahnen und Busse stellten für BewohnerInnen mit dem niedrigsten Einkommen eine spürbare Entlastung dar.

Eine finanzielle Erleichterung

Eine Familie mit drei Kindern spare rund 50 Euro im Monat: Bei einem Einkommen, das bei vielen deutlich unter 1.000 Euro liegt, schlage das durchaus zu Buche. Und die Aussicht auf finanzielle Erleichterungen dürfte durchaus eine Rolle gespielt haben, als bei einer im März 2012 veranstalteten Volksabstimmung über 75 Prozent der HauptstädterInnen „Ja“ zur Aufforderung „Deine Stimme für kostenlosen öffentlichen Transport“ sagten.

Kostenlos ist der im Übrigen nur für die knapp 440.000 EinwohnerInnen Tallinns selbst. Die identifizieren sich am Fahrscheinautomaten mit einer speziellen Chipkarte. Besucher aus anderen Teilen Estlands und TouristInnen müssen ein Ticket für 1,60 Euro lösen.

Diese Besserstellung der Hauptstadtbewohner hat nach Berechnungen der Stadtverwaltung dazu geführt, dass der Kommunalhaushalt vom Gratisverkehr nicht nur nicht belastet wird, sondern sogar davon profitiert. Tausende EstInnen, die zwar in der Hauptstadt wohnten, dort aber nicht mit ihrem Erstwohnsitz gemeldet waren, hätten in den letzten Jahren Ihren Wohnsitz umgemeldet, um in den Genuss des Gratisverkehrs zu kommen: Sie zahlen jetzt hier Steuern – ein Teil fließt direkt in den Stadtsäckel.

Nach dem Willen der Ende November ins Amt gekommenen neuen Mitte-links-Regierung soll im Übrigen in Estland ab 2018 auch die Fahrt mit allen Überlandbussen kostenlos werden. Da deren Betrieb schon jetzt zu mehr als zwei Dritteln über Staatszuschüsse finanziert werde, sei es effektiver, die Fahrten gleich gratis, diesen Verkehr insgesamt attraktiver und die Landbewohner mobiler und damit für den Arbeitsmarkt besser verfügbar zu machen, meint Wirtschafts- und Transportministerin Kadri Simson.

20 Millionen Euro soll das jährlich kosten und laut Koalitionsvertrag auch einen gewissen Ausgleich dafür schaffen, dass der öffentliche Service auf dem flachen Land immer mehr ausgedünnt wird.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Der Preis ist nicht alles. Wennn das Streckennetz nicht attraktiv ist, gewisse Orte nicht angesteuert werden, nützt ein gratis Ticket nichts. Dann haben viele Leute keine Chance.

    Aber vom Prinzip finde ich die Idee gut.

  • IRRE...

    dass nun Tallin die mutter aller guten nachrichten ist. wenn ihr euch mal umschaut, gibt es die freie fahrt im öffentlichen personen nahverkehr in ungarn und rumänien schon länger: die senioren haben dort auf öffentlichen städtischen transportmitteln überall freie fahrt, soweit ich das sehe. wenn unsere kommunalen verkehrsbetriebe endlich die freiheit hätten , nicht betriebswirtschaftlich, sondern volkswirtschaftlich zu rechnen, wäre das bei uns schon längst zur entlastung der städte und des klimas geschehen. aber wie schwer war es, den geschäftsführern der betriebe schon in den achtziger jahren die umweltkarte als erfolg abzuringen...learning by doing !

    • @hanuman:

      Deutschland ist zwar überaltert, aber es gibt nicht nur Senioren. ;-)

       

      Interessant fände ich's, wenn der Autor sagen könnte, was er damit meint, der Autoverkehr ginge nicht zurück. Die Zahl der zugelassenen Pkw, der zurückgelegten Wege oder Kilometer, der MIV-Anteil im Modal Split, ...?