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starke gefühleDer Teletext war die Krönung der digitalen Entwicklung. Was danach kam? Kann nix!

Die Zukunft beginnt im Jahr 1998. Zumindest in meinem Elternhaus. Irgendwann im Spätsommer schiebe ich eine der vielen AOL-CDs, die den Computerzeitschriften beiliegen, ins CD-ROM-Laufwerk, installiere die Software und gehe online. Das ist cool, aber so richtig weiß ich nicht, was ich dort machen soll.

Deutlich spektakulärer war es im Frühjahr desselben Jahres, als meine Eltern sich endlich – als womöglich letzter Haushalt der Bundesrepublik – einen Fernseher kauften, der videotexttauglich war. Denn man muss sich das noch mal vor Augen führen: Bevor das Internet zum Massenmedium wurde, informierte man sich aus Zeitungen, die einmal am Tag gedruckt und in den heimischen Briefkasten gestopft wurden. Auch im Radio liefen Nachrichten, aber wenn man sie verpasst hatte, musste man bis zur nächsten vollen Stunde warten, um zu erfahren, was aktuell so los war – und das galt nicht nur für das Weltgeschehen, sondern auch für Sport­er­geb­nisse und die Lottozahlen. Da unterschied sich Deutschland 1979 (oder in unserem Haushalt: 1997) nicht groß von 1950.

Bis am 1. Juni 1980 endlich der Videotext kommt. Ein offiziell als „Teletext“ bezeichnetes Medium, das auf magische Art im Fernsehsignal mit übertragen wird und das man mit der Fernbedienung aufrufen und darin navigieren kann. Aus der damaligen Perspektive ist es eine Art ständig aktuell gehaltene Zeitung auf dem Fernsehschirm; in der Rückschau eine sehr textlastige Nachrichten-App auf einem nichtmobilen Gerät.

In jedem Fall ist es in meiner Jugend alles, was ich je gewollt habe. Auf Seite 111 kann man, quasi als Vorläufer der Push-Nachricht, immer die jeweils aktuellste Schlagzeile lesen. Dort erfahre ich etwa vom ICE-Unglück in Eschede, bevor ARD und ZDF in Sondersendungen darüber berichten. Seite 222 liefert das Gleiche für Sport, auf Seite 150 kann man mitlesen, was gerade im Fernsehen gesagt wird („Untertitel für Hörgeschädigte“), und auf Seite 333 erfährt man mit einem Blick, welche Sendung man gerade schaut.

Für einen Teenager, der bereits mit acht Jahren eigene Nachrichtensendungen im Kinderzimmer moderierte, ist der Videotext eine Offenbarung. Jetzt weiß ich immer, was gerade passiert – zumindest, wenn niemand den Fernseher im Wohnzimmer blockiert. Jetzt kann ich auf einen Blick sehen, wie der jeweilige Spielstand bei den Bundesligaspielen ist, selbst wenn im Radio gerade kein Fußball läuft. Besser geht es nicht! So kann es für immer bleiben.

Denn was ist danach denn noch groß gekommen? Ein Onlinejournalismus, dessen Startseite alle paar Minuten anders aussehen soll und bei dem deshalb unwichtige Meldungen zum Aufmacher hochgejazzt werden. Social Media, sprich: Elon Musk und irgendwelche Boomer, die bei Facebook gegen eine „rot-grün-versiffte“ Gesellschaft, den „Kinderbuchautor“ Robert Habeck und gegen „Greta Thunfisch“ wettern. Hochkantvideos. Dafür hat Tim Berners-Lee das World Wide Web doch nicht erfunden.

Das Versprechen des Internets war natürlich toll. Alle Menschen werden Publizist*innen, gesellschaftlich übersehene Personen bekommen eine Stimme, Redaktionen verlieren ihre Gatekeeper-Funktion. Aber wie das so ist, wenn man etwas im Internet bestellt, ist das Ergebnis oft eine Enttäuschung. Heute kann jedes fröhliche Rummeinen eines leserbriefschreibenden Stammtischgängers auf X (früher Twitter) auf die gleiche Lautstärke verstärkt werden wie die seriöse Arbeit von Expert*innen.

Das Versprechen des Internets war natürlich toll: ein Rückkanal, für alle. Doch das klappt nur, wenn dieser einen Mehrwert bietet

Die Idee eines Rückkanals ist ja nur so lange verlockend, wie dieser einen Mehrwert verspricht. Bertolt Brecht würde seine Radiotheorie deshalb heute vermutlich auch ein bisschen anders formulieren, wenn er sehen könnte, wie wir uns alle gegenseitig online beleidigen und so abhängig von Like-Zahlen sind wie die Menschen zu seiner Zeit von Zigaretten. Der Videotext war der Buchdruck. Das Internet ist der Fotokopierer, mit dem man Kalendersprüche dupliziert, um sie im Büro an die Wand zu pinnen.

Natürlich ist es schön, dass man online Menschen kennenlernen kann, die man sonst nie getroffen hätte. Aber ich sag mal so: Kontaktanzeigen gab es auch im Videotext. Lukas Heinser

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