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ohne stimmeAuf Emine Yildiz Enkelkinder ist Verlass

Ich kam 1972 das erste Mal nach Deutschland. Mein Mann kam bereits ein Jahr früher als ich, als Gastarbeiter. So wie viele andere wollten wir nur kurz bleiben, arbeiten, Geld sparen und dann zurück nach Istanbul. Doch daraus wurde nichts, wir blieben. Zwei meiner Kinder sind in Deutschland geboren, einer von ihnen hat den deutschen Pass. Darauf waren wir sehr stolz – der erste aus der Familie, der Deutscher wurde. Wir machten uns auch ein wenig lustig über ihn und nannten ihn „Hans“. Und natürlich bewunderten wir diesen roten Pass mit dem goldenen Adler darauf.

Ich habe die türkische Staatsangehörigkeit, darf in der Türkei wählen, aber das ist doch blöd. Dort lebe ich seit über 50 Jahren nicht mehr! Und warum darf ich nicht in dem Land wählen, in dem ich lebe? Das ist doch nicht demokratisch, oder?

Ich erinnere mich an Willy Brandt, den damaligen Bundeskanzler. Er hielt eine Rede auf unserem Marktplatz und setzte sich für uns ein, für die Integration der Migranten. Er sorgte für den Ausbau von Bildungs- und Sprachprogrammen für Gastarbeiter. Das war wichtig, denn er stellte sicher, dass wir langfristig Teil der deutschen Gesellschaft werden konnten. Und das sind wir ja auch geworden. Wir sind der Beweis. Aber die SPD hat ihren Geist verloren. Sie ist nicht mehr das, was sie einmal war.

Manchmal denke ich: „Ja, Emine, vielleicht kommt ja irgendwann das Wahlrecht für alle.“ Dann lache ich. Es gibt leider nur noch Anfeindungen. Vielleicht sollten wir aber wieder mehr daran arbeiten, die Migranten zu integrieren, anstatt sie in irgendwelchen Heimen abzuschotten und mit dem Finger auf sie zu zeigen. Kein Wunder, dass die Leute verrückt werden. Und diese Migrationsdebatte geht die ganze Zeit. Was ist mit all den anderen wichtigen Themen? Gesundheit zum Beispiel? Bildung? Die jungen Menschen wissen vielleicht nicht einmal, was der Holocaust war. Das ist schlimm.

Wenn ich am Sonntag wählen könnte, würde ich auf jeden Fall die Linke wählen. Beide Stimmen würde ich ihr geben. Immerhin habe ich Enkelkinder, die wählen dürfen. Ich bin sicher, dass zumindest ein paar Stimmen aus meiner Familie nicht verloren gehen.

Protokoll: Derya Türkmen. Emine Yildiz ist ihre Großmutter

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