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normalzeitHELMUT HÖGE über den Langen Marsch

Die AA-Kommune

Als Rudi Dutschke und andere den Langen Marsch der chinesischen Partisanen auf die hiesigen Verhältnisse übertrugen, dachten sie weniger daran, die deutsche Linke nun massenhaft in Staat, Verwaltung und Wirtschaft zu lenken, wie es dann die Zeitung Der Lange Marsch suggerierte – und ihr Herausgeber Tilman Fichter in der SPD vorexerzierte. Es sollte hier vielmehr von den Genossen ein – zuvor vom Guerillaführer Che Guevara propagierter – „Focus“ gebildet werden: im Sinne von Widerstandszellen.

Che war damit zwar gescheitert, nicht zuletzt wegen der „Ausländerfeindlichkeit“ der bolivianischen Bauern, aber der lange Marsch in und durch die deutschen „Institutionen“ war erfolgreich, ähnelte jedoch mehr dem einst von der Vierten Internationale propagierten „Einsickern“. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den wunderbaren Diamantenschleifer Jakob Moneta, der wirklich weltweit aufrüherisch tätig war und ist. Zwar flog er – als Antizionist – erst aus einem Kibbuz, dann als Trotzkist aus der SPD und später auch noch aus der IG-Metall, aber die ostdeutsche Betriebsräte-Initiative hielt ihn bis zuletzt.

Die „68er“ versuchte der deutsche Staat im übrigen durch einen „Radikalenerlaß“ draußen zu halten, was ihm bei einigen moskauorientierten Briefträgern und Lehrern auch gelang. Die maoistische bis spontaneistische Linke ließ sich dagegen massenhaft auf die Verfassung vereidigen. Die meisten wurden jedoch „umgedreht“, das heißt sie verrieten nicht die Verfassung, sondern ihre revolutionäre Vergangenheit.

Neulich nun traf ich in einem Ostberliner Arbeitsamt (AA) auf fünf Mitarbeiter, die der ursprünglichen SDS-Idee treu geblieben sind. Ursprünglich wollten sie nach dem Studium in Westberlin in diverse Massenmedien einsickern, zuerst bei der Zeit, wo Helmut Schmidt sich jedoch gerade jede weitere Anstellung von Wehrdienstverweigerern verbeten hatte. Zu der Zeit wohnten die fünf zusammen in Moabit in einer WG. Inzwischen haben sie alle ein eigenes Häuschen im Grünen, dafür bilden sie aber seit 1983 im AA eine „Kommune“: zuerst in West- und nun in Ostberlin.

Auch die Weiterbildungsmaßnahmen aus Nürnberg oder von ihrer Gewerkschaft absolvieren sie gemeinsam. Drei haben mittlerweile Kinder, einer ist geschieden und einer schwul geworden. Nicht nur schieben sie sich ihre „Vorgänge“ gegenseitig zu und helfen sich bei der Bearbeitung, wobei sie unbillige Härten und Unzumutbarkeiten nach Möglichkeit zu vermeiden suchen, außerdem bilden sie auch innerhalb der Behörde eine Widerstandsgruppe gegenüber den Vorgesetzten, mit der etwa acht weitere Kollegen lose sympathisieren. Mit diesen treffen sie sich regelmäßig nach Feierabend in einer Kneipe, um Sabotage-Aktionen nach oben und Dem-Volke-Dienen-Verbesserungen nach unten zu planen. Seit drei Jahren kommt auch ein engagierter Arbeitsrechtler. Von diesem – ebenfalls ein „68er“ – stammt der Name der Gruppe: „AA-Kommune“.

Auf einem Zeltlager bei Güstrow, organisiert von einer Arbeitsloseninitiative, an dem die fünf AA-Mitarbeiter teilnahmen, hatten sie bereits an ihr großes Zehnmannzelt ein Schild mit der Aufschrift „AA-Ini“ befestigt. Tatsächlich sind sie auch mehr und mehr im Arbeitslosenbereich organisatorisch aktiv – das heißt nach Feierabend, während sie im Dienst eher bremsen: wenn es zum Beispiel um die Vermittlung in unzumutbare Arbeitsbedingungen geht, etwa in Call-Center. Diese eigentümlich menschenfreundliche Dienstauffassung veranlasste neulich bereits einen langzeitarbeitslosen Ost-Akademiker zu der frohen Bemerkung, nachdem er die „AA-Kommune“ ohne Job wieder verlassen hatte: „Der Kapitalismus hat seine Widersacher anscheinend gleich mitgebracht!“

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