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Hilfe bei sexualisierter GewaltWo die Not am größten ist

Die künftige Bundesregierung muss die Hilfe für Betroffene sexualisierter Gewalt bewahren. Tut sie es nicht, hätte das verheerende Folgen.

Zwei Frauen nachts auf dem Heimweg: ein Symbol für eine bedrohliche Situation Foto: imago

M itte März hat das Familienministerium bekanntgegeben, dass das Ergänzende Hilfesystem (EHS) für Betroffene sexualisierter Gewalt in den nächsten zwei Jahren abgewickelt wird. Nur noch bis zum 31. August 2025 kann man Anträge stellen, danach nicht mehr. Das wird verheerende Folgen für die in Kindheit und Jugend von sexualisierter Gewalt Betroffenen haben.

Das EHS besteht aus dem Fonds Sexueller Missbrauch im familiären Bereich und außerdem einem Teil zum institutionellen Bereich. Menschen, die im familiären Bereich oder in einer Institution wie einer Kirche oder einem Sportverein sexualisierte Gewalt in Kindheit oder Jugend erlebt haben und unter den Folgen leiden, können einen Antrag auf Hilfe stellen. Die Hilfen müssen geeignet sein, Beeinträchtigungen aufgrund der erlittenen Gewalt abzumildern. Dazu können Hilfen für einen Umzug, eine Namensänderung oder Sicherungsmaßnahmen an der Wohnung ebenso zählen wie die Unterstützung für das Nachholen eines Schulabschlusses oder Physiotherapie.

Die Bedeutung des Ergänzenden Hilfesystems ist für viele Betroffene hoch; das hängt mit der Ausgestaltung des sonstigen Hilfesystems zusammen. Viele Menschen, die sexualisierte Gewalt in ihrer Kindheit und Jugend erlitten haben, fallen nämlich durch sämtliche staatlichen Hilferaster. Viele Betroffene können ihren Fall nicht „beweisen“, wenn außer ihnen und dem Täter niemand anwesend war.

Die Anforderungen an eine strafrechtliche Verurteilung sind hoch, und viele entscheiden sich gegen eine Anzeige. Einige sehen sich in einer innerfamiliären Gewaltsituation so unter Druck, dass sie sich die Anzeige nicht trauen. Andere befürchten, im Rahmen des Strafverfahrens retraumatisiert zu werden, und möchten sich dem nicht aussetzen.

Anträge auf soziale Entschädigung werden oft abgelehnt

Das soziale Entschädigungsrecht unterstützt Menschen, die durch ein Ereignis, für das die staatliche Gemeinschaft eine besondere Verantwortung trägt, eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben, bei der Bewältigung der Folgen. Aber auch im Rahmen des sozialen Entschädigungsrechts müssen Betroffene darlegen, dass sie ein schädigendes Ereignis erlitten haben. Selbst wenn ihnen der Nachweis gelingt, müssen sie darlegen, dass die Schädigung kausal für ihre gesundheitliche Beeinträchtigung war. Damit entsteht eine weitere Hürde.

Nach Auskunft des Weißen Rings sind 2023 48,1 Prozent der Anträge auf soziale Entschädigung abgelehnt worden. Dabei ist die Antragsquote schon so gering: 2021 wurden lediglich 15.125 Anträge gestellt – bei 214.099 Gewalttaten. Laut einer Forsa-Umfrage des Weißen Rings aus dem Jahre 2022 kannten 76 Prozent der Befragten das Opferentschädigungsrecht nicht.

Betroffene benötigen Sicherheit und Verlässlichkeit – und dafür braucht es ein Gesetz

Die Schwierigkeit lässt sich an einem fiktiven Fall nachvollziehen. Ein Mädchen erleidet im Alter von elf bis dreizehn Jahren sexualisierte Gewalt durch ihren Stiefvater. In der Schule verschlechtert sie sich seit dem elften Lebensjahr rapide. Während das erste Jahr am Gymnasium sehr gut verlief, sackten ihre Leistungen so stark ab, dass sie die Schule wechseln muss und am Ende knapp die Realschule abschließt. Sie hat seit dem Beginn der Gewalt Albträume, Schlafstörungen und massive Ängste und Depressionen. Sie erstattet Anzeige. Es gibt außer ihrer Aussage keine Beweise. Ihr wird nicht geglaubt.

Es gibt keine Fotos, keine Videos und keine Personen, die die Taten gesehen haben. Das Verfahren wird eingestellt. Sie stellt einen Antrag auf soziale Entschädigung. Dieser wird abgelehnt. Das Vorliegen eines schädigenden Ereignisses sei zu bezweifeln. Im staatlichen Gesundheitssystem hat sie Anspruch auf Psychotherapie. Den Versuch mit einer dritten Therapeutin bricht sie ab. Schon als kleines Kind hatte sie großes Vertrauen zu Pferden, aber eine tiergestützte Therapie zahlt ihre Krankenkasse nicht.

Sie stellt einen Antrag beim EHS und erhält einen Brief, der mit dem Satz beginnt: „Wir erkennen an, dass Sie als Kind Opfer sexualisierter Gewalt wurden.“ Sie beginnt zu weinen und realisiert in diesem Moment, welche Bedeutung die Anerkennung der ­Gewalt für sie hat. Ihr Antrag auf eine tiergestützte Therapie wird bewilligt, und innerhalb eines Dreivierteljahrs geht es ihr so gut, dass sie den gymnasialen Schulabschluss nachholen möchte.

Betroffene konnten durch den Fonds den Ort verlassen, an dem ihnen die Gewalt widerfahren ist. Der Fonds hat den Umzug, den Kauf gebrauchter Möbel, die Kaution ermöglicht. Andere waren in dem Beruf, den ihre Mutter, die Täterin, ausgesucht hatte, gefangen. Der Fonds hat ihnen eine Weiterbildung finanziert, mit der sie einen Beruf ihrer Wahl ausüben können.

Jedes Mal, wenn ein Fall sexualisierter Gewalt gegen Kinder öffentlich wird, heißt es, es müsse mehr getan werden, um solche Gewalttaten zu verhindern und Betroffene gut zu unterstützen. Das ist richtig. Gleichzeitig ist es deprimierend, dass weder ausreichend Ressourcen in Prävention und Unterstützung wie etwa spezialisierte Fachberatung gesteckt wird, noch bestehende Strukturen wie das Ergänzende Hilfesystem sicher sind und zukunftsfest gemacht werden. Das EHS muss gesetzlich verankert und dauerhaft strukturell gewährleistet werden.

Es ist für Betroffene oft die letzte und einzige Möglichkeit, Hilfe zu erhalten. Wenn es in der bestehenden Form nicht weiterhin bestehen bleiben soll, darf es erst aufgelöst werden, wenn es eine Alternative bereits gibt. Es besteht Hoffnung, dass im Koalitionsvertrag festgehalten wird, dass der Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem fortgeführt werden sollen.

Nicht nur ein Bekenntnis dazu, sondern auch das schnelle Entwickeln einer zukunftsfähigen Struktur für den Fonds Sexueller Missbrauch ist dringend nötig. Sicherheit und Verlässlichkeit müssen geschaffen werden, und dafür braucht es ein Gesetz zur Gewährleistung des Ergänzenden Hilfesystems.

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1 Kommentar

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  • Prognose: schlecht. Vertrauen ist nicht mehr angesagt -- jemandem einfach glauben ohne Beweis, wo kommwa dann denn hin. (Ausnahme: Steuererklärungen der Wohlhabendsten.) Wie Musk schon richtig sagte, Empathie ist Schwäche. Und mit den Hilflosen braucht man ja Empathie, um ihnen zu glauben (mit den Wohlhabenden nicht, darum kann man deren Steuererklärungen auch bedenkenlos akzeptieren).