kommentar: Der Präsident zeigt eine seltene politische Tugend: Bescheidenheit
Er kann ja beißen! Wenn es denn sein muss. Gestern trat nicht ein milder und etwas langweiliger Bruder Johannes vor die Öffentlichkeit, sondern ein Bundespräsident, dem der Ärger darüber anzumerken war, dass sein Amt und seine Person zu Wahlkampfzwecken missbraucht werden sollten. Johannes Rau hat sich gegen diese Zumutung scharf zur Wehr gesetzt. Darüber hinaus hat er eine der schwierigsten Entscheidungen, die je ein Staatsoberhaupt in der Geschichte der Bundesrepublik zu fällen hatte, überzeugend und souverän begründet.
Es war allgemein erwartet worden, dass der Bundespräsident das Zuwanderungsgesetz unterschreiben würde – trotz des würdelosen Affentheaters bei dessen Verabschiedung. Zugleich aber schien eine Verstrickung von Rau in den Parteienstreit fast unausweichlich zu sein. Als rot-grüner Präsident hätte er dann dagestanden, als eine der vielen Krähen, die anderen Krähen kein Auge aushackt. Im Rückblick wird es vielleicht das größte Verdienst von Johannes Rau sein, dass er diese Gefahr vermieden hat. Das tat er mit einem einfachen, aber selten benutzten Mittel: dem der Bescheidenheit. Rau hat sowohl eigene Grenzen offen eingestanden als auch gezeigt, dass die Legitimität der Ausübung von Amtsgewalt an Grenzen stoßen kann. Er maßt es sich nicht an, eine abschließende Antwort auf eine selbst unter Verfassungsjuristen umstrittene Rechtsfrage geben zu wollen, sondern wünscht ausdrücklich eine Klärung der Sachlage durch das Verfassungsgericht. Das wäre gewiss auch mit Blick auf künftige, ähnlich gelagerte Fälle hilfreich. Eine inhaltliche Bewertung des Gesetzes ist mit einem entsprechenden Verfahren übrigens nicht verbunden.
Das Verhalten von Rau zeugt von Respekt gegenüber dem Prinzip der Gewaltenteilung. Selbstverständlich ist das offenbar nicht. Zu Recht hat er sich verwundert darüber gezeigt, dass die Unionsparteien eine Klage vor dem Verfassungsgericht als „Drohung“ betrachten. Sie legen damit ein ebenso seltsames Rechtsverständnis an den Tag wie die SPD-Fraktionsvorsitzenden aus Bund und Ländern, die gestern die Verfassungsmäßigkeit des Zuwanderungsgesetzes für nunmehr erwiesen erklärt haben. Ist ja egal, was der Bundespräsident so vor sich hin redet. BETTINA GAUS
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