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kabolzschüsseAuf der Suche nach Berlins randigster Randsportart

Brieftaubensport

Die Brieftaube führt ein armseliges Dasein. Ab September wird sie im Taubenschlag eingesperrt und bleibt bis ins Frühjahr inhaftiert. Wenn sich der Habicht auf einen Schlag eingeschossen hat, ist es vorbei mit den fröhlichen Flügen. Deswegen der Vogelvollzug. Die Züchter wollen kein Tier verlieren. Die besten Flieger kosten bis zu 20.000 Mark.

Würde sich ein Zehnkämpfer vom Herbst bis zum Frühjahr ins Bett legen, wäre es vorbei mit der Mehrkämpferei. Die Tauben aber fliegen im März munter drauflos. Sie absolvieren ein paar Übungsflüge, kommen in Form, und ab geht’s mit dem „Kabinen-Express“, dem Taubenmobil.

Doch bevor die Tiere ihre Wettflüge veranstalten, setzt sich ein gut Teil der Halter vor den Computer und bestellt per Internet: Kortison, Probiotika, Roborantia – unerlaubte Mittel, die die Winterschläfer munter machen. Weil der Missbrauch grassiert, hat der Verband Deutscher Brieftaubenzüchter Dopingbeauftragte eingesetzt. In Berlin macht Siegfried Grund diesen Job. Als emeritierter Professor für Infektionskrankheiten und Tierseuchen ist er der richtige Mann dafür.

„Mit unstatthaften Leistungssteigerungen ist immer zu rechnen“, sagt er. Kortison lindert die Schmerzen – nicht nur im Peloton der Tour-Radler, die ihr angebliches Asthmaleiden damit kurieren. Antibiotika schützen vor Krankheiten, verzögern aber die Mauser der Tiere. „Die Mittel haben tiefer gehende Schadwirkung“, sagt Grund. Deswegen werden Kotproben auf Doping untersucht.

Die Gläubigkeit unter den Züchtern sei enorm. Viele Mittel würden verabreicht. Grund verzichtet auf Betrug. Er gibt seinen 50 Tieren lieber einen Mix aus Hanfkörnern, Erdnüssen und Sonnenblumenkernen. Nach Wettkämpfen, wenn die Tauben in den Schlag in Siemensstadt zurückkehren, kriegen sie außerdem ein Getränk mit Knoblauch und Zwiebeln, das ihre Atemwege von Schleim befreit. Denn in der Nase sitzt ein Navigationsorgan, das empfindlich auf Schwingungen reagiert. Der Kompass der Taube sollte richtig funktionieren.

Siegfried Grund geht mit seinen Tieren nachsichtig um. Langsamen Tauben reißt er nicht, wie oft praktiziert, den Kopf ab oder greift zum Hackebeil. „Das ist nicht meine Art, das kann ich nicht.“ Tauben, die ausgesondert werden, bringt er zu einem Restaurant in der Nähe. „Taubengerichte sind leckere Gerichte“, sagt er.

In Deutschland gibt es etwa 80.000 Züchter mit zehn Millionen Brieftauben. Die meisten davon im Ruhrgebiet. „Bergleute haben eine besondere Beziehung zu Tauben, wer jeden Tag in die Nacht der Förderschächte hinabsteigt, der schaut gern und oft in den Himmel, wo seine Tauben über dem tristen Einerlei der Fördertürme und Kokshalden kreisen“, sagt Verbandssprecher Klaus Kühntopp. Siegfried Grund meint, dass das Ruhrgebiet darüber hinaus ideale „Schwingungsbedingungen“ liefere. Die Kohleflöze absorbieren die Erdstrahlung. Die Tauben haben es somit leichter, heim zu finden.

Brieftaubenzucht ist uralt. Das erste Motiv findet sich in der Bibel. Eine Taube mit Ölzweig im Schnabel bedeutet Noah, dass Land in Sicht ist. In Kriegen wurden Botschaften mit Tauben übermittelt. Bis 1945 gab es in Spandau eine Heeresbrieftaubenstation. Seit dem Zweiten Weltkrieg betätigen sich die Vögel aber nur noch sportlich.

Die meisten Züchter sind im Rentenalter. Es werden immer weniger. Drei der zehn besten kommen aus Berlin. Sie bringen ihre Tiere in der Flugsaison an bestimmte Auflassorte, zum Beispiel nach Gent (663 km von Berlin entfernt), Lehrte (211 km) oder Garbsen (240 km). Dort schwärmen die 500 Gramm schweren Vögel aus, flattern mit sechs Flügelschlägen pro Sekunde los, beschleunigen auf 100 km/h und finden zurück. Meistens. 10 bis 30 Prozent bleiben verschollen. Das ruft Tierschützer auf den Plan.

Der Bundesverband Tierschutz sagt, Tausende von Brieftauben stürben elendig, verfingen sich in Hochspannungsleitungen oder verendeten in den Städten, weil sie an das urbane wie freie Leben nicht gewöhnt seien.

Siegfried Grund sagt, da seien viele „Pauschalverdächtigungen“ darunter, und erzählt, wie er seine Tiere zur Rückkehr motiviert. Bevor es in die Luft geht, zeigt er dem monogam lebenden Männchen seine Gefährtin, die nicht mitfliegt. Durch die Trennung beflügelt, schießt der Witwer auf Zeit förmlich nach Hause. Zum Turteln. MARKUS VÖLKER

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