heute in hamburg: „Ungarn als trojanisches Pferd“
Vortrag
„EU-Politik zu Nahost und Nordafrika: Lehren aus 2011 für die Zukunft“ im Rahmen der Ringvorlesung „Arabischer Frühling: 10 Jahre danach“. 18.15 Uhr, Anmeldung für die Zoomkonferenz: anmeldung@boell-hamburg.de
Interview Arne Matzanke
taz: Herr Woertz, welche Herausforderungen ergeben sich für die EU aus den Geschehnissen der arabischen Revolution?
Eckart Woertz: Die Region selber ist nach wie vor politisch recht fragil. Tunesien ist das einzige Land, das halbwegs eine demokratische Erfolgsgeschichte vorzuweisen hat. Politische und sozioökonomische Krisen der mediterranen Staaten wirken sich auch auf die Europäische Union aus. Seien es regionale Konflikte, die stellvertretend in den EU-Staaten ausgetragen werden oder Migrationsströme. Ökonomisch ergibt sich heute hohes Kooperationspotential mit der Region, gerade im Bereich der Energiewende.
Hat die EU die autokratischen Systeme der Mittelmeerstaaten im Vorlauf der arabischen Revolution unterstützt?
Teilweise ja. Gerade Tunesien war eine präferierte Partnerschaft. Frankreich hat sich nicht vorgedrängelt, als es dort zu Aufständen kam. Ganz im Gegenteil. Anfangs wurde noch der damalige Präsident Zine el-Abidine Ben Ali unterstützt. Auf der anderen Seite hat die EU die Vorgänge in den Ländern verhalten positiv begleitet. In Libyen hat man sich via Nato auch militärisch gegen Muammar al-Gaddafi gestellt, ohne allerdings einen Plan für die Nachkriegszeit zu haben.
Die Europäische Nachbarschaftspolitik hat das Ziel die Mittelmeerstaaten auf dem Weg zur „vertieften Demokratie“ zu unterstützen. Sie sichert ihnen Handelserleichterungen und Kredite zu. Ist das zielführend?
Die Europäische Union führt die Rechtsstaatlichkeits- und Demokratisierungspolitik im Bauchladen, fährt aber letztendlich einen realpolitischen Ansatz. Der neue Fokus der EU läuft unter dem Schlagwort „Resilienz“, also Widerstandsfähigkeit. Einerseits betont man die Resilienz der Zivilgesellschaft und überträgt einen Teil der Verantwortung auf zivilgesellschaftliche Organisationen. Andererseits kann auch ein autokratisches System resilient sein, beispielsweise gegen den Klimawandel. Der Fokus auf Resilienz eröffnet die Hintertür, trotz Menschenrechtsverletzungen mit diesen Staaten zu kooperieren.
Fluchtursachen bekämpfen wollen und Autokraten unterstützen – geht das?
Die häufige Vorstellung, dass wirtschaftliche Konjunktur zur Minderung von Flucht verhilft, ist irreführend. Im Europa des 19. Jahrhunderts existierten Wirtschaftswachstum und Migrationsströme nach Amerika zeitgleich. Der Großteil der Fluchtbewegungen heute findet innerhalb des afrikanischen Kontinents und des Nahen Ostens statt. Die meisten Migrationsströme führen nicht nach Europa. Die Menschen, die nach Europa flüchten, sind in der Regel gebildetere Teile der Bevölkerung, die die ökonomischen Mittel haben, um Schleusernetzwerke zu bezahlen. Solche Migration kann Europa auch nutzen, aber sie wird nicht durch ein paar Projekte hier und dort verhindert.
Eckart Woertz 52, ist Direktor des Bereichs Nahost-Studien am GIGA Institut Hamburg. Seit 2019 ist er Professor für Zeitgeschichte und Politik des Nahen Ostens an der Uni Hamburg.
Wie wirken sich die Stimmen europa-skeptischer Staatsoberhäupter auf die Mittelmeerpolitik der EU aus?
Generell ist das Problem: Gibt es überhaupt eine einheitliche Außenpolitik? Der Europäische Rat, in dem sich die Staatschefs zusammenfinden, gibt unter anderem die außenpolitische Agenda vor. In vielen Punkten sind der EU durch Unstimmigkeiten außenpolitisch die Hände gebunden, etwa mit Ungarn. Das Land ist nach wissenschaftlichen Kriterien keine Demokratie mehr. Viktor Orbán gibt sich als Autokratieversteher vom Dienst. Ungarn wird von autokratischen Staaten wie China, Türkei oder Ägypten als trojanisches Pferd genutzt, um eine europäische Außenpolitik zu torpedieren.
Wo liegt ihrer Meinung nach die Zukunft der europäischen Mittelmeerpolitik?
Ich denke die EU darf ihre Rolle der Menschenrechts- und Demokratieunion nicht so einfach aufgeben. Natürlich muss es Kompromisse geben, aber in der aktuellen Verfassung ist die Außenpolitik der europäischen Union gelähmt. Die Energiewende kann eine zentrale Rolle spielen, ökonomische Interessen und menschenrechtliche Normen zu vereinen.
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