heute in hamburg: „Eine vermeidbare Ungerechtigkeit“
Diskussionsforum „Mehr Mut! Wie wir die gerechte Gesellschaft werden können, die wir eigentlich sein wollen“ der „Zeit“-Stiftung: 19.15 Uhr, Deutschlandfunk
Interview Paula Bäurich
taz: Herr Razum, ist unsere Gesundheitsversorgung in der Coronapandemie ungerechter geworden?
Oliver Razum: Ich denke, dass die Gesundheitsversorgung in Deutschland aktuell Außerordentliches leistet. Von einer Zunahme der Ungerechtigkeiten können wir hier nicht sprechen.
Sehen Sie denn generell aus medizinischer Sicht eine wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft?
Ja, es gibt enorme soziale und sozioökonomische Unterschiede in den Gesundheitschancen, allerdings nicht erst seit Corona. Die Lebenserwartung unterscheidet sich je nachdem, wie gut gebildet ein Mensch ist und wie hoch sein Einkommen ist. Bei den Männern besteht zwischen der Gruppe mit dem höchsten und der mit dem niedrigsten Einkommen ein Unterschied in der Lebenserwartung von neun Jahren, bei den Frauen sind es viereinhalb Jahre. Das ist eine vermeidbare Ungleichheit.
Warum wirkt sich der finanzielle Status so stark auf die Gesundheit aus?
Wer wohlhabend ist, kann mehr für seine Gesundheit tun. Deswegen haben viele Gesundheitsprogramme, die eigentlich diese Ungleichheit bekämpfen sollen, einen paradoxen Effekt. Letztendlich profitieren diejenigen, die sie am meisten bräuchten, am wenigsten davon.
Wie lässt sich das Problem lösen?
Oliver Razum
60, ist Mediziner und Epidemiologe. Seine Hauptarbeitsgebiete sind soziale Ungleichheit und Gesundheit.
Wir dürfen nicht nur auf den Gesundheitsbereich schauen, sondern brauchen eine Gesundheitspolitik, die sich auf alle Sektoren erstreckt. Das bedeutet, in den Bereichen Wohnen, Verkehr oder Landwirtschaft muss Gesundheit immer bereits mitgedacht werden. Damit möchte ich nicht sagen, dass wir keine gute medizinische Versorgung bräuchten. Allerdings reicht diese allein nicht aus, um die sozialen Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung auszugleichen.
Warum sollte eine gute medizinische Versorgung, die für alle zugänglich wäre, nicht reichen?
Es genügt nicht, wenn jeder eine Chance bekommt und dann für sich selbst agieren muss. Einige Menschen in bestimmten Regionen des Landes oder in bestimmten sozialen Schichten können nicht mit den gleichen Chancen am sozialen und kulturellen Leben teilhaben. Es gibt enorm ungleiche Ausgangsbedingungen. Dafür muss vom Staat ein Ausgleich geschaffen werden.
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