heute in hamburg: „Religion spielt die kleinste Rolle“
Charlotte Wiedemann, 63, schreibt unter anderem für die taz, Die Zeit und Geo. 2017 erschien ihr Buch "Der neue Iran".
Interview Ella Klees
taz: Frau Wiedemann, inwiefern unterscheiden sich die jüngsten Demonstrationen im Iran von vorherigen?
Charlotte Wiedemann: Um das zu sagen, wissen wir noch gar nicht genug, aber das werden wir heute Abend diskutieren. Denn es gab in Iran schon vorher wöchentliche Arbeiterproteste, etwa wegen vorenthaltenem Lohn, und wir wollen sehen, wodurch sich die jüngsten Sozialproteste davon unterscheiden.
Kann man die Proteste mit der „Grünen Bewegung“ von 2009 vergleichen?
Die Protestwelle Anfang des Jahres trat vor allem in kleineren Städten auf und ist jetzt wieder abgeebbt. Die „Grüne Bewegung“ war von der Beteiligung her wesentlich größer und hatte klare Forderungen. Das sind verschiedene Erscheinungsformen von Unzufriedenheit, Dissidenz und Widerstand im Iran.
Was für Gründe gab es für die Demonstrationen vor kurzem?
Die Proteste in Iran hatten vor allem soziale Gründe, sie sind in Städten mit einer besonders hohen Arbeitslosenrate aufgetreten. Aktuelle Auslöser waren zum Beispiel, dass Rentenfonds und Banken Pleite gegangen sind. Auch der Klimawandel und der gravierende Wassermangel in Iran spielen hinein. Beispielsweise haben in einer Provinz im Südwesten Irans, die stark von Wasserarmut betroffen ist, die Proteste besonders lang angehalten.
Sind Proteste in Iran besonders militant?
Nein, und man kann diskutieren, was an der jüngsten Militanz Iran-typisch ist. Wenn man es vergleicht mit dem, was gerade in Tunesien passiert – auch dort gibt es Sozialproteste, die sehr rabiat vorgetragen werden. Es ist ein Unterschied, ob eher ärmere Schichten oder die Mittelklasse und die höher Gebildeten demonstrieren. Wenn verzweifelte Arme protestieren, geht es gleich mehr zur Sache, dann werden eben auch Polizeiwachen angegriffen, das hat es in Tunesien wie in Iran gegeben.
Haben die Leute genug vom Mullah-Regime?
Die Islamische Republik ist immer ein Mischsystem zwischen demokratischen und theokratischen Elementen gewesen. Und es gibt nach wie vor einen gewissen Prozentsatz, der dieses System stützt, weil sie davon profitieren oder aus anderen Gründen. Ich denke, Religion als solches spielt da die kleinste Rolle. Es gab auch eine Reihe von Massendemonstrationen für das Regime. Und ich finde es nicht richtig zu sagen, dass da alle Leute nur herangekarrt wurden.
Diskussion „Iran in Bewegung“, 18.30 Uhr, Staats- und Universitätsbibliothek, Von-Melle-Park 3
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