heute in bremen: „Märchen haben zeitlose Botschaften“
Diethelm Knauf, 66, ist freiberuflicher Dozent an der Uni Bremen. Von 1998 bis 2013 war er Leiter des Bremer Landesfilmarchivs.
Interview Jasmin Johannsen
taz: Herr Knauf, was oder wer waren Landesflüchtige?
Diethelm Knauf: Das ist ein Begriff, mit dem die Bremer Stadtmusikanten von den Brüdern Grimm beschrieben wurden. Die vier Tiere mussten ihren Hof ja verlassen, weil sie zu alt waren, wurden also zu Landesflüchtigen. Das steht natürlich stellvertretend auch für viele Menschen, die von ihrem Wohnort weggehen, um neu anzufangen.
Das Märchen wurde Anfang des 19. Jahrhunderts erstmals veröffentlicht. Ist Deutschland also schon länger ein Einwanderungsland?
Wanderungen bestimmten das Leben der Menschen – auch in Deutschland – über Jahrhunderte. Da gab es immer wieder Einwanderungswellen. Zum Beispiel durch die Hugenotten, die im 17. Jahrhundert aus Frankreich nach Deutschland geflohen sind. Es gibt allerdings Unterschiede zu klassischen Einwanderungsländern wie den USA. Ihr Selbstverständnis war immer das einer Nation von Einwander*innen. Das ist in Deutschland anders.
Was verbindet die Bremer Stadtmusikanten mit heutigen Migrant*innen?
Vortrag: „Etwas Besseres als den Tod ...“ von Diethelm Knauf, 11 Uhr, Haus der Wissenschaft
Sowohl die Märchenfiguren als auch die Migrant*innen verlassen ihre Heimat aufgrund von sogenannten Push- und Pull-Faktoren. Menschen flüchten vielleicht wegen Hungersnöten, Kriegen oder Verfolgungen. Das sind dann die Push-Faktoren. Das Versprechen auf ein besseres Leben in der Ferne könnte ein Pull-Faktor sein. Bei den Stadtmusikanten sieht es ähnlich aus. Um ihrem nahenden Tod zu entgehen, wollen sie nach Bremen. Das tun sie aber auch nur, weil sie gehört haben, dass sie dort ihren Lebensabend als Stadtmusikanten in Ruhe verbringen dürfen.
Kann man nicht betroffenen Menschen Fluchthintergründe anhand von Märchen näherbringen?
Viele Märchen haben zeitlose Botschaften. Sie müssen nur erst richtig entschlüsselt werden, aber dann kann man sie sehr gut vermitteln. Deswegen sind diese Geschichten auch so wichtig – und das nicht nur für Kinder.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen