heute in bremen: „Die Gefühle sind entscheidend“
Simone Eick, 46, Historikerin, Migrationsforscherin, ist Direktorin des Deutschen Auswandererhauses
Interview Benno Schirrmeister
taz: Frau Eick, wieso befasst sich das Auswandererhaus mit Kriegsgefangenschaft?
Simone Eick: Sie gilt – deshalb passt sie zu unserem Selbstverständnis als Migrationsmuseum – nicht als Auswanderung, aber als Form der Zwangsmigration. Tatsächlich hat sie ja viele Aspekte, wie die Unsicherheit der Zukunft, mit klassischer Migration gemein.
Und wieso eignet sich das Thema für eine Sonderausstellung?
Wir fanden dieses Jahr einen guten Zeitpunkt dafür: Vor 100 Jahren ging der Erste Weltkrieg zwar offiziell zu Ende, aber das galt eben nicht für die rund neun Millionen europäischen Männer in Kriegsgefangenschaft.
Die Rede ist von einem Ausstellungsexperiment: Was bedeutet das?
Sie ist experimentell in ganz wörtlichem Sinn: Wir nehmen Teil am Verbundprojekt „Museum4punkt0“, dessen Ziel es ist, Anwendungsmöglichkeiten digitaler Technik im Museum zu erproben. Wir tun das mit einem Virtual-Reality-Programm und anhand zweier Leitfragen: Uns interessiert, welche Aspekte durch Virtual Reality besser verständlich gemacht werden können. Und ob wir überhaupt Orte und Objekte brauchen, die Geschichte repräsentieren – also worin der Wert des Originals liegt.
Um was für Originale handelt es sich denn?
Vernissage: „Kriegsgefangen, Ohnmacht, Sehnsucht“, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven. Fürs Publikum erst ab Mittwoch geöffnet
Die Ausstellung erzählt die Geschichte des August Schlicht aus Hamburg, der nach dem Krieg sechs Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft war. Von der Familie haben wir eine beeindruckende Sammlung von über 200 Briefen – und persönlicher Objekte, wie eine Haarlocke der Tochter, die er all die Jahre stets bei sich trug.
Klingt sehr emotional …?
Das soll es auch: Emotionsgeschichte ist eine neue Richtung der Geschichtswissenschaft. Sie reagiert auf die Einsicht, dass nicht nur Ereignisse und Machtverhältnisse die Historie prägen. Auch die Gefühle sind entscheidend. Wie die Debatte der vergangenen Jahre zeigt, gilt das ganz sicher auch für unser Thema – Migration.
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