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großraumdiscoPlatten verkaufen im Schatten eines ausgestopften Eichhörnchens

Menschen, die von nichts wissen, glauben, es falle schwer, sich von alten Platten zu trennen. Nun: Es kommt darauf an, wie viele davon man hat

Fällt einem das nicht wahnsinnig schwer, Schallplatten aus der eigenen Sammlung auf dem Flohmarkt zu verscherbeln? Diese Frage wird schon mal gestellt, wenn man ankündigt, auf dem Trödel ausnahmsweise nicht wie üblich noch mehr Kram erwerben zu wollen, sondern sich im Gegenteil von ein paar Dingen zu trennen. Hinter der Frage steckt die Vorstellung, dass man als Sammler zu Schallplatten eine gewisse emotionale Bindung haben müsse, sonst würde man sich seine Regale ja nicht mit unendlich vielen Tonträgern zustellen, anstatt wie jeder normale Mensch ein Spotify-Abo zu unterhalten.

Bei Menschen mit überschaubaren Sammlungen mag es auch so sein, dass sie bei jeder Platte noch genau wissen, in welcher Lebensphase sie diese erworben haben, und ganz sentimental werden, wenn sich der Tonarm über „Harvest“ von Neil Young senkt, die die Ex-Freundin so gern hatte. Bei Thomas und mir aber ist das anders. Wir haben uns letztes Wochenende auf den Flohmarkt in Neukölln gestellt, weil wir einfach Ballast loswerden wollten. Wer nur noch Kopfschütteln vom Besuch erntet, weil der einen nicht mehr für einen Sammler, sondern für einen Messie hält, sollte wenigstens in Maßen auf Marie Kondo hören und ausmisten. Damit man nicht doch so endet wie dieser Chris in der für Plattensammler verstörenden Doku „Vinyl“ von Alan Zweig, der niemanden mehr in seine Bude lässt, in der sich selbst auf seinem Bett die Platten stapeln.

Möglichst alles loszuwerden, war also das logische Ziel. Aber so lief es natürlich nicht. Auch wenn einiges wegging, fühlten sich die zerpflückten Plattenkisten am Ende des Flohmarkttags immer noch viel zu schwer an. Aber wir wollen uns nicht beklagen: Es lief gut und hat richtig viel Spaß gemacht.

Mehr als sonst jedenfalls. Es war ja nicht unser erster gemeinsamer Flohmarkt. Einmal im Jahr gönnen wir uns dieses Ritual, das vom Prinzip her ­immer gleich abläuft, dieses Mal aber doch ganz anders. Normalerweise ist es so, dass die ersten Vinyl-Junkies bereits Schlange stehen, wenn man gerade noch dabei ist, die Kisten auszupacken. Wenn die mit den Kisten durch waren, passierte in der Regel nicht mehr so viel, nur noch ein paar Flohmarktspaziergänger stöberten halb interessiert herum, um dann doch nichts zu kaufen.

Diesen Sonntag aber herrschte den ganzen Tag über Gedrängel an unserem Stand. Vielleicht weil wir nicht ganz so sehr wie sonst wie die typischen Vinyl-Fritzen wirkten, von denen sich ausschließlich die anderen Vinyl-Fritzen angesprochen fühlen. Wir hatten dieses Mal auch viel mehr Klamotten und CDs im Angebot und vor allem ein paar echte Hingucker wie ein ausgestopftes Eichhörnchen und etwas wirklich sehr schwer Definierbares, das Thomas Ho-Chi-Minh-Sandalen nannte. Die Dinger wurden aus ausrangierten Autoreifen gefertigt und seien unkaputtbar, so Thomas. Ein ausgestopftes Eichhörnchen und unförmige Sandalen aus Autoreifen wollte zwar natürlich niemand haben, aber sie erregten Neugier. Und wer diese Kuriositäten aus der Nähe betrachtete, warf dann vielleicht doch noch einen Blick in die Plattenkisten.

Einmal aber gab es sogar eine Art Verkaufsgespräch bezüglich des Eichhörnchens, als zwei Kinder dieses neugierig betrachteten und vorsichtig streichelten. Es stellte sich heraus, dass sie in der Schule die „Eichhörnchen-Klasse“ besuchen und somit also vor ihrem Wappentier standen, das zwar tot war, aber eigentümlich lebendig wirkte. Die beiden Kinder waren wirklich sehr angetan von dem ausgestopften Nager, ihr Vater aber weniger, weswegen die beiden Eichhörnchen auf ihr Eichhörnchen verzichten mussten.

Flohmärkte

sind ein beliebtes Ausflugsziel an den Wochenenden in Berlin. Die Auswahl ist riesig, die ein­zelnen Märk­te un­ter­schei­den sich oft in mehr als nur Nuancen. Der Neuköllner Flow­markt am May­bach­ufer fin­det jeden zweiten Sonn­tag statt.

Immerhin hatten wir so sogar mal wirklich interessierte Kinder am Stand. Sonst stehen diese immer nur quengelnd neben ihren Vätern und weit seltener Müttern und haben sichtbar kein Verständnis dafür, dass schon wieder eine dieser doofen Schallplattenkisten durchwühlt werden müssen.

Beim nächsten Flohmarkt müssen Eichhörnchen und Ho-Chi-Minh-Sandalen unbedingt wieder mit dabei sein.

Möglichst alles loszuwerden, war also das logische Ziel. Aber so lief es natürlich nicht

Andreas Hartmann

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