Performance bei Festival in Hannover: Die beste aller möglichen Welten
Bei den Kunstfestspielen Herrenhausen flaniert man mit Leibniz. Mit der Performance „Habitat“ war Headbangen und viel Nacktes zu erleben.
E inst Lustgarten der Welfen-Sommerresidenz, heute Touristenattraktion. In strahlend reinem Weiß kontrastieren Statuen die satt rasengrünen Rechtecke zwischen ihren Sockeln. Abgezirkelte Beete, Rabatten, Buchsbaumornamente und streng rasierte Hainbuchenhecken werden von hellem Kies, Schredderholz und schwarzer Erde umspielt, hier mal ein Pavillon, dort Wasserspiele. Barocke Pracht, in Muster gezwungen und geometrisch geordnet, ja, eine geradezu göttliche, alles Böse vermeintlich kontrollierende Harmonie repräsentierend, wie Herr Leibniz vielleicht gedacht haben mag, als er dort mit Sophie von der Pfalz, Kurfürstin von Hannover, philosophierend herumflanierte.
Und so empfangen die Herrenhäuser Gärten ihre Gäste zum jetzt 350. Geburtstag mit seinem als Lichtinstallation (von Tim Etchells) präsentierten Postulat, dass wir nach Leibniz in „The best of all possible worlds“ leben, weil ein allmächtiger, -wissender und -gütiger Gott ja gar nicht anders kann, als die beste aller möglichen Welten zu erschaffen.
Dass mit ihr natürlich pfleglich umzugehen und sie weiter zu entwickeln ist, wird beim Bespötteln dieser Argumentation gern vergessen. So wie auch die 50 Hektar große Anlage pfleglich begärtnert und jährlich mit großen Festen, Feuerwerken und auch den Kunstfestspielen Herrenhausen für die Zukunft aufgestellt werden muss.
Die Kunstfestspiele Herrenhausen
in Hannover bieten noch bis 8. Juni ein Programm mit Musik- und Zirkustheater, Performances, Konzerten, Tanz- und Theatervorstellungen, mit dem man das Publikum „zu einmaligen künstlerischen Erfahrungen“ einladen will.
Am ersten Festspielwochenende lud Choreografin Doris Uhlich zu einem Spaziergang, der den Garten in einer Tanzperformance als „Habitat“ der Nacktmenschen entdecken ließ, die abends ihre Verstecke verlassen. Statt in Abendgarderobe schmissen sich dafür annähernd 400 Menschen in Outdoorkleidung, denn der Wind verbog die Palmen hinterm Schloss, zum Bibbern runtergekühlt war die Temperatur.
In höflichem Abstand knäulten sich die Neugierigen vor vier sanft plätschernden Kaskaden, und wie aus dem Nichts tauchten 50 Performer:innen unterschiedlichen Alters und vielfältiger Gewichtsklassen auf, einige im Rollstuhl, andere mit OP-Narben. Alle nackt. Ungeschützt schrieben sie so ihre Haut- in die historischen Gartenlandschaften ein. Schmiegten sich hüllenlos an Balustraden, zeigten Tanzposen, wiegten händchenhaltend hin und her, hopsten sich warm, ließen Penisse schwingen, Brüste hüpfen, erstarrten zu Skulpturen und dialogisierten in choreografischen Miniaturen mit der Architektur. Aus einem Ort toter Steine wurden Tableaux vivants.
Das Publikum fremdelte mit der ungenierten Nacktheit. Anfassen verboten, klar. Aber auch Angucken ist für strikt antisexistische Gegenwartsmenschen nicht unbeschwert möglich. Um sich von der Objektifizierung unbekleideter Körper zu emanzipieren, wurde beiläufiges Stieren und betont abgeklärtes Kommentieren versucht. „In der Sauna sehe ich das auch alles.“
Aber die Irritation verlief sich bald, da die naturbelassenen Körper mit schönster Selbstverständlichkeit durchs verschwenderisch inszenierte Ambiente bummelten. Im Gartentheater aber, zwischen pyramidalen Bäumchen und vergoldeten Bleifiguren, klatschten sie ringkämpfend aneinander und zum Leiberturm aufeinander. Eine Ode an die Opulenz des Barocks, die sich ja auch im Schönheitsideal der Weichheit einer üppigen Fleischlichkeit zeigte. Entsprechend versetzten Performer:innen mit zuckenden Muskelpartien ihr Fettgewebe in schwabbeliges Vibrieren, so dass Bewegungswellen über die Körper liefen. Statt schamvollem Applaus nun jubelnde Zustimmung zum vermeintlichen Statement: Wir sind alle anders, alle schön, lasst unsere diversen körperlichen Ausformulierungen tanzen.
Diesen Befreiungsgestus setzte die Uhlich-Kunst mit mächtigem Techno-Wumms und wilder Physis gegen die zurechtgestutzte und so als beherrschbar illusionierte Natur. Zu erleben war auch Headbangen mit barocken Perücken und ekstatische Entblößungsmotorik, als mal kurz Reifrockskelette übergestreift wurden. Final wurde auf einer Freifläche zum Rave gebeten.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Der formalisierte Barockgarten hatte sich der Leibniz’schen Freiheit zum Individuellen geöffnet und war daher an diesem Abend die beste aller möglichen Welten.
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