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geht’s noch?Überall Unzufriedene

Familienministerin Franziska Giffey beklagt, die Dankbarkeit sei abhandengekommen. Da mag sie recht haben – aber dankbar sein kriegen wir halt auch ohne die SPD hin

Die europäische Sozialdemokratie ist eigentlich kein Fall mehr für Polemiken. Viel eher werden ihr ausführliche Elendsbeschreibungen gerecht, wie etwa die hervorragende Reportage über die Desolatheit der französischen Parti socialiste am Freitag in dieser Zeitung. Unter dem formidablen Titel „Die Arroganz der Ohnmacht“ und der lakonischen Unterzeile „statt sich zu erneuern, drischt man meist Phrasen“ erfährt man darin sehr viel über das Innenleben der gallischen Genossen.

Nicht viel weniger abgeschmackt als Polemiken sind Ratschläge von außen für eine Partei, der man ja weiterhin beitreten kann, wenn einem ihre derzeitige programmatische wie personelle Aufstellung nicht zusagt. Da trifft es sich gut, dass ein Hoffnungsstern der SPD, die ehemalige Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln und derzeitige Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, dieser Tage von sich aus Ratschläge gab. Und zwar, wie es sich für eine Sozialdemokratin gehört, via Bild, möglicherweise in der alten Erwartung, BamS und Glotze würden dann schon folgen.

„Die Dankbarkeit ist abhandengekommen. Die Leute haben eine Grund­unzufriedenheit“, sagte Ministerin ­Giffey am vergangenen Montag laut Bild. Obwohl die Wirtschaft boome und die Arbeitslosigkeit so gering sei wie seit vielen Jahren nicht mehr, würden sich die Leute immerfort beschweren.

Ist es zu billig, einer solchen Analyse etwa ein Papier aus dem 2017 noch sozial­demokratisch geführten Wirtschaftsministerium entgegenzustellen, in dem Brigitte Zypries befürchtete, dass die Einkommensschere immer größer werde? „Im Jahr 2015 waren die realen Bruttolöhne der unteren 40 Prozent zum Teil deutlich niedriger als 1995“, heißt es dort. Wäre das nicht der Teil der deutschen Realität – neben Altersarmut, Wohnraumspekulation und anderen Schieflagen –, für den sich die SPD, insbesondere in ihren öffentlichen Statements, interessieren müsste?

Nicht jede Geringschätzung des Bestehenden muss progressiv sein, im Gegenteil führt die totale Verachtung dessen, was ist, auf die Rutschbahn in Richtung totalitärer Herrschaft – das kann man bei Hannah Arendt nachlesen. Ob aber einer dankbar ist für das, was er hat, und dafür sich selbst, dem lieben Gott oder seinem Steuerberater die Hand schütteln mag, ist Privatsache.

Schön wäre es eben, wenn ein wenig mehr als derzeit 17 Prozent der Wahlberechtigten glaubten, auch der SPD Dank zu schulden. Phrasendreschen à la ­Giffey wird dazu nichts beitragen.

Ambros Waibel

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